Weihnachten: Die Sehnsucht des Menschen nach dem Glück

Kind mit Kerze
Russell Hilliard

Was fasziniert die Menschen trotz Kitsch und Kommerz immer noch an Weihnachten? Wir besuchten den Psychologen und Psychotherapeuten Russell Hilliard und fragten ihn nach seinen Beobachtungen.

Einige Leute behaupten, Weihnachten müsste eigentlich längst abgeschafft sein.
Russell Hilliard: Psychologisch gesehen weckt Weihnachten unsere tiefsten Sehnsüchte: Es ist die Sehnsucht nach einer spirituellen Dimension, die Sehnsucht, fröhlich zu sein. Oder etwas banaler gesagt, ist es die Sehnsucht nach Glück. Gerade in den Weihnachtsliedern, welche die meisten noch irgendwie kennen, wird die Sehnsucht nach dieser Freude geweckt.

In einer konsumorientierten Gesellschaft werden solche Sehnsüchte natürlich ausgenutzt. Aus kommerzieller Sicht müsste man also Weihnachten erfinden, wenn es dieses Fest noch nicht gäbe.

Für viele bedeutet Weihnachten Stress, Einsamkeit oder spannungsgeladene Familientreffen, und trotzdem feiern die meisten dieses Fest und machen alles mit. Warum?
Wäre Weihnachten einfach irgendein Anlass ohne tiefere Bedeutung, würden wir das Fest vielleicht längst nicht mehr feiern. Ich glaube aber, der Mensch spürt gerade an Weihnachten eine Sehnsucht nach dieser spirituellen Dimension, die dem Leben Sinn gibt. Die Kirchenbesuche gehen ja zurück, aber die Sehnsucht nach Transzendenz ist nach wie vor stark. Bei Umfragen geben etwa 80 Prozent aller Europäer an, sie würden an Gott glauben, nur 20 Prozent gehen hingegen in die Kirche. Bei der Weihnachtsgeschichte geht es genau um solche tiefen Sehnsüchte des Menschen: Gott kommt in unsere Welt, in unser oft unschönes und leidvolles Leben. Und da fragen sich die einen oder anderen: Ist Weihnachten doch mehr als Glitter und Geschenke, und könnte es vielleicht doch wahr sein, was man da eigentlich feiert?

Würden wir ohne Kommerz Weihnachten noch feiern?
Ich denke ja. Wir Menschen haben das Verlangen, eine «Heimat» zu haben, irgendwohin zu gehören. In der Weihnachtsgeschichte geht es ja auch um eine Familie. An keinem anderen Tag im Jahr ist die Erwartung so gross, als Familie zusammenzukommen. Doch die intakte Familie war selten Realität. Vielleicht ist die Ehe geschieden oder der Partner gestorben – diese Schmerzen holen uns an Weihnachten ein. Viele Menschen werden mit der Realität konfrontiert, dass sie diese «Heimat» nicht haben. Es gibt kaum einen Tag im Jahr, an dem so viel Einsamkeit erlebt wird wie an Weihnachten. Wenn wir dann die Krippe sehen, kann uns das an schmerzvolle Erfahrungen in der eigenen Familie erinnern und gleichzeitig in uns den tiefen Wunsch wecken nach heilen Beziehungen.

Viele erleben Weihnachten über die Freude ihrer Kinder. Was würde vom Fest bleiben, ohne die leuchtenden Kinderaugen vor dem Tannenbaum?
Sicher, bei einigen Ehepaaren gäbe es kein Weihnachtsfest mehr. Sobald die Kinder nicht mehr da sind, hören sie auf zu feiern. Bei anderen könnten die unerfüllten Sehnsüchte bleiben, und man könnte zurückfinden zur ursprünglichen religiösen Bedeutung – es könnte wieder ein christliches Fest werden. Man könnte die Weihnachtsgeschichte neu entdecken, die erzählt, dass Gott nicht fern ist, dass er sich verletzlich gemacht hat und als Kind auf diese Welt gekommen ist.

Viele, die sich an Weihnachtsfeste der Kindheit erinnern, verbinden das mit Frieden und Geborgenheit.
Ich vermute, dass das tatsächlich viele Kinder so erlebt haben. Sie hatten das Glück, liebevolle Eltern zu haben. Aber die Realität ist auch, dass das für viele Kinder nicht so war. Weihnachen ist dann die Erinnerung an das, was sie sich als Kinder gewünscht haben.

Angenommen, Jesus träte heute als Psychotherapeut auf, was würde er einem Ratsuchenden sagen, der ihm erzählt, dass ihn Weihnachten nicht mit Freude erfülle, sondern er dann nur die Einsamkeit spüre?
Ich vermute, Jesus würde nicht in der Psychotherapie-Praxis warten, bis jemand anklopft. Er wäre draussen, er würde auf Menschen zugehen, die einsam oder traurig sind. Er würde die Gemeinschaft mit solchen Menschen suchen.

Was sagen Sie Menschen in Ihrer Praxis, die mit Weihnachten nicht das Fest der Liebe, sondern Einsamkeit und Traurigkeit verbinden?
Ich würde ihnen vorschlagen, neue Bedeutungen von Weihnachten zu entdecken. Vielleicht gibt es neue Formen, die nicht an negative Erlebnisse gekoppelt sind. Vielleicht kann ein solcher Mensch ein neues Symbol entdecken – die Krippe, einen Stern oder eine Kerze.

Für andere bedeutet Weihnachten häufig auch Familienstreit am Heilig Abend. Was raten sie denen?
Ich habe Frauen in der Therapie, die solche Situationen schildern. Ich rate ihnen dann, alles aufzuschreiben, was sie für Weihnachten vorbereiten. Dann frage ich, was sie alles weglassen oder wo sie ihren Mann miteinbeziehen könnten. Für andere heisst Weihnachten, zuhause im Familienkreis eingesperrt zu sein. Dann ist es vielleicht hilfreich, einmal am Weihnachtsabend in eine Kirche zu gehen – zusammen mit anderen Menschen. Weihnachten wurde ja ursprünglich in der Kirche gefeiert. Ein solches Erlebnis kann vielleicht helfen, die ursprüngliche Bedeutung von Weihnachten wieder neu zu entdecken.

Viele Menschen glauben an eine höhere Macht. Aber dass dieser Jesus, der auf die Erde kam, Gottes Sohn war, das scheint ihnen absurd.
Entweder war Jesus ein Lügner, ein Grössenwahnsinniger oder Gottes Sohn. Von diesen drei Möglichkeiten sprach schon der verstorbene Oxford-Professor C.S. Lewis. Man könnte Jesus also erstens als Lügner sehen, der etwas vorgespielt hat, was er nicht war. Als Psychologe wende ich ein, dass er dann ein zu perfekter Lügner gewesen wäre. Solche Betrüger fliegen meistens schon zu Lebzeiten auf. Man könnte zweitens sagen, dass er unter Grössenwahn gelitten hat, wie zum Beispiel jemand, der meint, er sei Napoleon. Aus psychologischer Sicht gibt es bei Jesus keine Hinweise auf eine solche Erkrankung. Im Gegenteil, man muss doch über seine Weisheit staunen. Bleibt also die dritte Möglichkeit: Jesus ist wirklich das, was er behauptet hat.

Warum wollen die Leute in der Weihnachtszeit vermehrt Geld spenden und Gutes tun?
Die zynische Antwort wäre: Sie haben ein schlechtes Gewissen, weil sie von den Hilfswerken mit den Bildern der Realität konfrontiert werden. Ich glaube, viele merken einfach, dass Weihnachten mehr sein muss, als Geschenke an Menschen zu machen, die schon alles haben.

Wie feiern Sie Weihnachten?
Für mich beginnt Weihnachten mit den vier Sonntagen im Advent. Den Weihnachtsabend feiern wir als Familie – zusammen mit der Schwiegermutter. Zuerst zünden wir die Kerzen am Weihnachtsbaum an, singen Lieder und schauen dann einander zu, wie jeder seine Geschenke öffnet. Als Abschluss besuchen wir einen Gottesdienst – zusammen mit anderen Menschen.

Dr. phil. Russell Hilliard ist Psychologe und Psychotherapeut und führt in Nürensdorf eine Praxis. Nach dem Psychologie-Studium an der Universität Zürich machte er seine psychotherapeutische Ausbildung an der Harvard-Universität. Zurzeit lässt er sich in England berufsbegleitend zum anglikanischen Pfarrer ausbilden. In Zukunft möchte er als Pfarrer und Psychotherapeut arbeiten. Der gebürtige Amerikaner wuchs in Spanien auf, ist mit einer Schweizerin verheiratet und Vater von zwei Kindern.

Datum: 25.11.2005
Quelle: 4telstunde für Jesus

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