Weihnachtsbaum, du bist Madonna!

Den Weihnachtsbaum kaufen auch wir immer am letzten Tag - jedes Jahr aufs Neue. Dann gehen wir, die Männer der Familie, zum nächstgelegenen niederrheinischen Weihnachtsbaumhändler (meistens ein Holländer), dessen Bestände schon stark ausgedünnt sind. Wir deuten auf eine picklige Nordmanntanne mit galoppierender Astschwindsucht oder auf eine hyperventilierende Gelbkiefer - schwerer Fall von Borkengicht, mindestens Pflegestufe 2 - oder auf eine grämliche Blaufichte mit ekligem Schorf und Eiterbeulen und Klumpfüßen mit Blaufichtenfußpilz. Denn allzu wählerisch darf man ja am letzten Tag vor dem heiligen Feste nicht mehr sein. Wir bieten diesen von der Natur benachteiligten Kreaturen ein warmes Heim, wir schmücken und hegen sie, haben sie mit der ganzen Familie von Herzen lieb - als seien sie Prinzessinnen. Wir sind das Asyl für die Verachteten und Entrechteten unter den Weihnachtsbäumen.

Unseren Baum tragen wir zärtlich nach Hause, vorne trägt der Vater, hinten trägt der Sohn, mit samtenen Handschuhen. Der Baum ächzt und jammert, weil er denkt, es geht zur Brennholzpresserei. Es läuft Eiter und Schnodder und Schlimmeres aus ihm heraus und über unsere Arme und Hände - ich habe eine Harz-Allergie! Er riecht übel und wirft milbenübersäte Nadeln ab, und aus der Krone sabbert er panisch. "Armer, kranker Baum", sagt die kleine Schwester, "bald geht es dir besser."

Zu Hause wird der Baum erst mal warm geduscht, denn wir haben einen Warmduscherhaushalt. Dann fönen wir ihn trocken und verbinden seine Wunden mit Moltofill, und er kriegt von der Mutter eine leckere Ochsenschwanzsuppe. Der Baum sieht jetzt tatsächlich etwas besser aus. "Das Leben kann schön sein, Baum", sage ich. Der Baum grunzt zustimmend. Wir schmücken ihn, in trauter Gemeinsamkeit, wie der Brauch es gebietet. Wir tanzen um ihn herum. Wir singen mit ihm. "Du bist der Star! Du heißt Madonna! Oder Robbie Williams!", ruft das Schwesterlein, damit der Baum wieder ein bisschen Selbstbewusstsein tankt. Er ist immer noch krumm und schrundig und hat fast keine Nadeln, durch das Moltofill sickert gelblich der Eiter. Aber - er trägt stolz den Glasstern auf seiner Spitze, so wie es schon alle seine Vorgänger taten. Andere Familien mögen prächtige Weihnachtsbäume besitzen, stramme stiernackige Geschöpfe, bei denen die Besucher "Heureka!" rufen. Oder "Cool!", je nach Geburtsjahrgang. Aber das ficht uns nicht an, nein, nein. Ich beneide diese Leute nicht. Es sind Spießer. Unser Baum ist dankbar. Er gibt uns so viel.

Die Weihnachtstage vergehen, der Baum nimmt an Gewicht zu. Es wachsen ihm Nadeln, er beginnt appetitlich zu duften. Gleichzeitig wird er allerdings in seinem Wesen fordernder. Morgens ruft der Baum mit knarziger Stimme: "Wasser!" Am Wochenende verlangt er, über die Flaniermeilen unseres Heimatortes spazieren getragen zu werden. Oder über die weiten niederrheinischen Felder. Oder sogar über die Rhein-Promenade in Düsseldorf. Und abends schaut er mit offensichtlichem erotischen Interesse Anne Will und die "Tagesthemen". Nie beteiligt er sich an der Hausarbeit; Geschirrabtrocknen lehnt er kategorisch ab. Irgendwann Anfang Januar, so um das Dreikönigsfest, wird uns der Baum zu unverschämt und zu lästig. Dann kippen wir ihn aus dem Fenster, ganz so wie es die Skandinavier angeblich machen, glaubt man der Werbung eines schwedischen Möbelhauses. Die Pfadfinder holen ihn dann mit einem Karren ab und kassieren dafür ein paar Mark. Das ist uns der Baum wert. Sein Leben war kurz. Aber es war erfüllt, zeitweise wurde er sogar geliebt.

Auch in diesem Jahr wartet irgendwo da draußen ein hoffnungsloser Fall. Wir werden ihn finden, kurz bevor die letzten Baum-Händler zu machen. Vorher setzen wir noch die Ochsenschwanzsuppe auf.

Robert Bongen

Datum: 22.11.2002

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