Als siebenjähriger Junge wird J. Lee Grady auf
einer Sommerfreizeit sexuell missbraucht. Obwohl die Erinnerung mit der Zeit
verblasst, bleibt die Scham wie ein Schatten über seinem Leben. Bis er 50 Jahre
später noch einmal den Ort des Geschehens aufsucht…
J. Lee Grady
Als ich ein Junge
war, passierte mir etwas, das mich beschämte und über das ich niemals
öffentlich reden wollte. Während einer Sommerfreizeit in Alabama nahm mich ein
älterer Junge, von dem ich dachte, dass er mein Freund war, mit in den Wald und
missbrauchte mich sexuell. Dann nahm er mich in ein Bootshaus neben dem See, an
dem das Camp stattfand, um dort weiter zu experimentieren.
Ekel, Angst und Minderwertigkeitsgefühle
Es gab keinen
Geschlechtsverkehr und der Missbrauch war nicht schmerzvoll, aber er hinterliess
eine tiefe emotionale Narbe. Es war, als wäre meine siebenjährige Seele mit
einem heissen Bügeleisen gebrandmarkt worden. Ich sprach mit niemandem über
dieses Erlebnis und vergrub das Trauma, damit niemand es herausfand. Und so war
ich froh, als meine Familie aus Alabama wegzog, damit ich weder das Camp noch
das Bootshaus je wiedersehen musste. Doch die Erinnerungen folgten mir wie ein
Schatten und erzeugten Ekel vor mir selbst, Berührungsängste und
Minderwertigkeitsgefühle.
Mit 18 Jahren
begann mein Heilungsprozess: Kurz vor der Uni bat ich Jesus, ganz in mein Leben
zu kommen und mich mit seinem Geist zu füllen. Durch seine bedingungslose Liebe
befreite er mich Stück um Stück von der Scham. Und als ich heiratete, war der
Schatten des Missbrauchs ganz schwach geworden. Es half mir auch, als ich ein
paar Mentoren und Freunden vom Missbrauch erzählte. Ich hatte Angst, sie würden
zurückweichen und mich abweisen, aber sie brachten mir nur Liebe und
Bestätigung entgegen. Offenheit brachte Freiheit. Doch eine dünne Schicht Scham
blieb weiterbestehen, obwohl ich mittlerweile Vollzeitpastor war. Äusserlich
schien ich selbstbewusst und erfolgreich, aber ich mochte mich nicht.
Zurück zum Bootshaus
Vor wenigen
Monaten zog ich nach Georgia und stellte fest, dass das Camp, wo der Missbrauch
stattfand, nur 145 Kilometer von meinem Haus entfernt liegt. Mein Freund James
schlug vor, dass wir dorthin fahren und beten. Als wir auf das Camp-Grundstück
fuhren, hatte ich ein ungutes Gefühl. 50 Jahre waren seither vergangen, doch
der Ort sah noch genauso aus, wie in meiner Erinnerung – ausser zwei Dingen:
Das Haus, in dem der ältere Junge gelebt hatte, stand nicht mehr – und auch das
hölzerne Bootshaus nicht. Nur das verwitterte Fundament war am Ufer zu
erkennen.
Jesus war da
James und ich
standen auf dem Gras und beteten. Niemand sonst war da. James bat mich, mich zu
erinnern, was an dem Punkt geschehen war und sagte: «Der Herr war dort, als
diese schreckliche Sache geschah. Frage ihn, was er dir sagt…» Ich hatte meine
Arme defensiv verschränkt, vielleicht versuchte ich auch nach den vielen Jahren
noch, mein Herz vor dem Schmerz zu schützen. Aber in diesem Moment des Friedens
konnte ich in das Bootshaus sehen, voller Rettungswesten, Seilen und Kanus, die
an der Wand hingen. Ich sah Jesus, der nahe bei dem verängstigten Jungen stand.
Er sagte: «Ich werde nicht zulassen, dass dich dies zurückhält.»
Diese Worte hoben
eine schwere Last von mir. Jesus schimpfte nicht mit mir, schaute mich nicht
missbilligend an oder schrieb mich ab. Er war gekommen, um mich zu retten. Er
verteidigte mich. Er versprach mir, dass der Plan des Feindes, mein Leben zu
zerstören, nicht gelingen würde. Von dem Moment an wusste ich, dass meine
Erfahrung dieses Missbrauches überhaupt keine Kontrolle über mich hatte. Der
Stachel war weg.
Dann bat ich
James, ob wir noch einen anderen Ort besuchen könnten – und wir fuhren zu einer
Kirche, in der ich mit sechs Jahren Jesus mein Leben übergeben hatte. Und die
Kirche stand noch immer am Ort. «Das ist erstaunlich», sagte ich zu James. «Der
Ort, an dem ich missbraucht wurde, ist verschwunden. Aber der Ort, an dem meine
Beziehung mit Jesus begann, ist gewachsen.»
Was mein Leben definiert
Gott zeigte mir
an dem Tag, dass das, was mein Leben definiert und meine Zukunft kontrolliert,
nicht der hässliche Makel meiner Vergangenheit ist, sondern der wunderbare
Glaube, den ich bekam, als ich mich entschied ihm zu folgen. Und er erinnerte
mich an eine Wahrheit aus Jesaja, Kapitel 54, Vers 4a: «Hab keine Angst, du
wirst nicht mehr erniedrigt werden! Niemand darf dich je wieder beschämen. Du
wirst vergessen, wie man dich in deiner Jugend gedemütigt hat.»