"Wichtig ist, dass man seine Stimme erhebt, wenn es darauf ankommt"

Christian Führer, Initiator der Leipziger Montagdemos
Die Nikolai-Kirche in Leipzig
„Viele haben erlebt, dass es sich lohnt, sich einzubringen“

Leipzig. Aus 18 Leuten wurden 18.000: In Leipzig lassen Kriegsgegner die legendären Montagdemos wieder aufleben, die vor 14 Jahren dazu beitrugen, dass das SED-Regime fiel. Ausgangspunkt ist wie damals das Friedensgebet in der Nikolai-Kirche. Immer an der Spitze der Bewegung: Nikolai-Pfarrer Christian Führer, der sich als "Mund der Stummen" sieht.

Zielstrebigen Schrittes folgt ein Menschenstrom dem Geläut von St. Nikolai. In Leipzig ist wieder Friedensgebet. Die Leute halten Demo-Windlichter in den Händen. In der Kirche ist es eng und stickig. Scheinwerfer und Tonanlagen von Fernsehteams aus Wien, Tokio und Paris versperren den Blick auf Christian Führer, den Nikolai-Pfarrer. Aber jeder kann hören, was der Mann mit der altmodischen Jeansweste und der grauen Stachelfrisur der Friedensgebetsgemeinde sagt. Dass ihm manchmal "angesichts der Nachrichten und der Kriegsmentalität schlecht“ zu werden drohe. Dass, wer das Schwert zieht, durch das Schwert umkommen werde. Und dass wir "ohne Friedensgebet, ohne die montäglichen Demonstrationen der Resignation hilflos ausgeliefert“ wären. Und doch sei das nicht so: "Leipzig kommt, wenn es darauf ankommt – diese Erfahrung gibt uns in beängstigenden Zeiten Mut und Zuversicht.“ Klare, wie in Stein gehauene Worte.

St. Nikolai - Ikone deutscher Pazifisten

Inspiration aus Berlin, wo unlängst einer der grössten Demonstrationen der Nachkriegsgeschichte über die Bühne gegangen war, brauchen die Leipziger nicht. Sie haben ihre eigene Demo-Traditionen begründet. Seit Anfang der achtziger Jahre treffen sich exakt hier jeden Montag Leute zum Friedensgebet. Egal, welcher Zeitgeist gerade en vogue ist. Wenn sie Christian Führer, damals und heute Pfarrer von St. Nikolai, sehen - in fast unverändertem Jeans-Look -, kommen Erinnerungen an die Vorwende-Zeit auf.

Führer spricht auch heute wieder über diese Phase. Er flüstert beinahe. Es ist nicht nur die lädierte Stimme: "Das Reproduzieren der alten Bilder kostet emotional Kraft.“ Führer erzählt, wie vor 14 Jahren von diesem Ort der Funke für die friedliche Revolution in die restliche DDR übersprang und einen Flächenbrand auszulösen begann - und wie mit der Montagdemo am 9. Oktober 1989 der Anfang vom Ende der DDR eingeläutet wurde. Hunderttausende zogen damals um den Stadtring - wiederholt sich das 14 Jahre später vor einem drohenden Irak-Krieg mit unabsehbaren Folgen?

"Mr. Montag-Demo“

Christian Führer gilt als Initiator der Leipziger Montag-Demos. Ein eher unscheinbarer Mann, aber mit hellwachen Augen. Nach dem Ende des Friedensgebetes entlässt er viele mit einem persönlichen Handschlag. Die Kameras surren. Als Medienstar fühlt sich der Mann sichtlich unwohl. Journalisten-Fragen nach seiner Biographie erledigt er stichwortartig. 1943 als Sohn eines Pfarrers geboren, wuchs er im sächsischen Dorf Langenleuba–Oberhain auf. Studium der Theologie in Leipzig. Seit 1980 an der Nikolaikirche. In erster Linie Pfarrer.

Der 59-Jährige galt schon vor diesen Märztagen als der "Montagsdemo-Mann“. Ob beim Aufmarsch von Rechtsextremen oder dem Kosovo-Krieg, stets marschierte er vorne weg. In den neunziger Jahren wurde Christian Führer von jungen Neu-Leipzigern, für die der Mann mit dem beharrlichen Stehvermögen beinahe eine unheimliche Aura verströmt, als fossiler Friedensengel aus ferner Zeit belächelt. Geschichtsbewusste sehen das anders. Sie wissen: Führer ist massgeblich daran beteiligt, dass die Nikolaikirche nicht zu einem 89er-Fossil mutiert ist, sondern heute eine lebendige Gemeinde mit Strahlkraft ist. Christian Führer würde das nie über sich sagen. Schon immer war für den Vater von vier Kindern die Bergpredigt das Mass aller Dinge, "nicht die Meinung der Medien, nicht der amerikanische Präsident oder gar die Staatsräson“.

Es werden immer mehr

Christian Führer hakt sich bei jemandem ein, die Montagsdemonstranten beginnen sich zu formieren. Kerzen werden verteilt. Wie vor 14 Jahren werden sie von der Polizei, die das ganze Gelände umringt hat, mit Videokameras gefilmt. West- und Ostdeutsche passieren jenes Schild, dass Führer Anfang der achtziger Jahre vor der Kirche aufgestellt hatte und das dem Honecker-Staat ein tägliches Ärgernis war: "Nikolaikirche – offen für alle“.

Wenn man den Gesprächen im Demo-Zug lauscht und die Gesichtszüge studiert, kann man erahnen, warum dem Nikolai-Pfarrer von grossen Teilen der Ostdeutschen Achtung gezollt wird. Er spricht aus, was sie denken. Sie sehen mit Entsetzen und Erstaunen, wie eine Weltmacht ihnen ihren Willen Aufzwingen will – ausgerechnet ihnen, die 40 Jahre lang erst Moskau fragen mussten, was sie dürfen. "Hier sind wir ausgesprochen sensibel“, sagt Führer. Führer glaubt die Beweggründe vieler Montagsdemonstranten zu kennen. Inhalte und Bedingungen seien zwar andere, doch die Sehnsucht der Menschen, nicht einfach über sich verfügen zu lassen, sei dieselbe wie 1989. Er fügt hinzu: "Viele haben erlebt, dass es sich lohnt, sich einzubringen und damit Unmögliches zu schaffen. Wichtig ist, dass man seine Stimme erhebt, wenn es darauf ankommt.“ Es ist wie eine Lawine, wie eine Flut. Es werden immer mehr. Stets schwebt die historische Losung "Schwerter zu Pflugscharen“ über den Köpfen.

Marschieren, bis die Kriegsgefahr gebannt ist

Es ist spät geworden auf dem Augustusplatz, der früher Karl-Marx-Allee hiess. Dort gibt es an diesem Abend Igor Strawinskys Ballet "Das Frühlingsopfer“. Die Demofahnen werden wieder eingerollt. Erschöpft schliesst Christian Führer spät abends die Tür zu seiner Pfarrwohnung auf. Sie liegt idyllisch gelegen gleich gegenüber der Nikolaikirche. Wieder klingelt das Telefon. "Ich bekomme derzeit viele Anrufe und Briefe“, sagt er.

Manche wünschen ihm einfach nur Mut. Ermutigung, die er braucht, denn es gibt Momente, da überkommen ihn Zweifel an seinem Tun. Sind diese Demos nicht sinnlos? Wenn er jedoch zur Bücherwand schaut, sind diese Gedanken wie weggewischt. Dort hängt noch immer jene gelbe Schärpe mit der Aufschrift "Keine Gewalt“. Er trug sie am 9. Oktober 1989. Genau wie viele der Montags-Demonstranten gibt er die Hoffnung nicht auf, dass sich das "biblische Wunder“ auch im Jahr 2003 wiederholen kann. Oft wird er gefragt: Wie lange wird montags noch marschieren? "Bis die Kriegsgefahr gebannt ist. Für mich steht immer zuerst die Frage: Was würde Jesus dazu sagen? Wenn ich mir darüber im Klaren bin, dann geht's los - ohne Plakate, Büros und Schatzmeister.“

Datum: 12.03.2003
Quelle: Kipa

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