Brüder: Seit 32 Jahren kein Wort miteinander geredet
«Was hast du gesagt?» Ärgerlich schaut er seine Frau an. «Eine Weihnachtskarte? Für meinen Bruder?» Er macht eine gewichtige Pause. «Du weisst, wir reden schon lange nicht mehr miteinander.» Gleichzeitig überlegt er: Muss das eigentlich so bleiben?
Erst ist es nur ein kurzer Gedanke. Doch er wird ihn
nicht mehr los: «Seit diesem Jahr bin ich im Ruhestand. Mir geht es gut. Ich
habe alles. Meine Familie ist ein wunderschönes Geschenk. Und jetzt habe ich
auch noch mehr Zeit, um mich in der Kirche zu engagieren. Die war mir immer
wichtiger als…»
Schon wieder sein Bruder. Sie waren fast gleichaltrig,
aber doch wie Feuer und Wasser. Klar hatten sie auch gute Zeiten miteinander,
aber er erinnert sich hauptsächlich an Konkurrenz, Missverständnisse und
Streit. Sein Glaube an Gott, den er schon früh für sich entdeckte, erschien dem
Bruder immer verdächtig. Nicht, dass der nicht geglaubt hätte, aber irgendwie
anders: lauter, aktiver, selbstbewusster.
Und irgendwann verkrachten sie sich endgültig. Eigentlich
waren sie schon daheim ausgezogen, aber als Vater im Sterben lag, kamen sie
beide. Kaum war er tot, ging der Streit erst so richtig los. Die alten Probleme
brachen wieder auf – und neue wegen des Erbes kamen dazu.
Ein halbes Leben
«Ich fühle die Angst von damals noch», denkt er
erschreckt. Denn ehrlich verhielt er sich beim Teilen der väterlichen
Hinterlassenschaft nicht. Und so ging er, ohne einen einzigen Blick zurückzuwerfen.
32 Jahre alt war er damals. Und 32 Jahre ist das jetzt her. Sein halbes Leben…
Ganz langsam greift er zu seinem Handy. Er hat die Nummer seines Bruders.
Natürlich hat er sie nie angerufen, aber vielleicht schreibt er ihm einfach
eine SMS?
«Hallo. Ich bin's. Was meinst du, könnten wir uns mal
treffen?»
Absenden.
Er ärgert sich plötzlich, dass er die Nachricht sofort
abgeschickt hat. Was, wenn sein Bruder nie antwortet? Oder noch schlimmer: wenn
er es tut?
Kling!
«Ja, einverstanden. Wo?»
Irgendwie sind wir beide nicht so die Meister der
Worte, denkt er. Aber er freut sich über die Antwort. Er schlägt ein gutes
Restaurant auf halbem Weg zwischen ihren Wohnorten vor.
«Bis morgen dann.» – «Bis morgen.»
Seine Frau lächelt so fröhlich, wie er es schon lange
nicht mehr gesehen hat. Und er? Bekommt abends keinen Bissen herunter. Und als
er sich nach dem Fernsehkrimi ins Bett legt, halten ihn die Gedanken wach: Er
will mich gar nicht sehen. Er will sich rächen. Für damals. Wie konnte ich nur
so dumm sein!
Er wälzt sich die ganze Nacht hin und her. Als er
morgens schweissgebadet aufsteht, verdreht er sich auch noch den Fuss. Ha,
denkt er, jetzt hätte ich sogar eine Ausrede, nicht fahren zu müssen. Doch
trotz Müdigkeit kann er schon über sich selbst lachen: Wir sind zwei alte
Männer. Was sollte er mir tun?
Das Treffen
Gleich nach dem Frühstück setzt er sich in seinen BMW,
gibt die Adresse des Restaurants ins Navi ein und fährt los. Beim
Pfeifengeschäft an der Ecke hält er noch einmal kurz. «Haben Sie Trinidad-Havannas?»
Er kauft ein Kistchen der früheren Lieblingszigarren seines Bruders und bezahlt
ein kleines Vermögen dafür. Dann stellt er sie auf den Beifahrersitz und fährt
weiter.
Verkrampft hält er das Lenkrad fest. Der nächtliche
Kampf ist noch nicht ausgekämpft. Mal fragt er sich: Warum habe ich nicht noch
ein, zwei Jahre gewartet mit dem Treffen? Dann wieder: Wieso musste erst mein
halbes Leben vergehen, damit ich diese Strecke zu ihm fahre? Ich habe mich doch
immer für den Frommeren von uns beiden gehalten. Und spricht die Bibel nicht
ganz oft von Umkehr, Neuanfang und Versöhnung?
Kurz blitzt der verlorene Sohn vor seinem inneren Auge
auf. Aber meine Situation ist eine völlig andere, ruft er dem ahnungslosen
Golffahrer vor sich zu. Gut, dass der ihn nicht hört.
Erst scheint ihm der Weg endlos lang, doch
erschreckend schnell ist das Ziel erreicht und er biegt auf den Parkplatz des
Restaurants ein. Viertel vor zwölf. Wahrscheinlich bin ich noch vor ihm hier.
Er betritt das Restaurant, hängt seinen Mantel an die
Garderobe und macht sich mit den Zigarren unter dem Arm auf den Weg in den
Speiseraum. Da durchzuckt ihn der Gedanke: Und wenn er nicht kommt? Wenn ich
ihn nicht erkenne? Dann sieht er bereits den älteren Mann, der ein bisschen so
aussieht wie er selbst. Der ihn fixiert und dann aufsteht. Der die Arme
ausbreitet, lächelt und sagt: «Was bin ich froh, Jakob.»
Eigentlich ist dies gar keine Weihnachtsgeschichte.
Aber wenn die Weihnachtszeit solch ein Nachdenken anstösst, dann ist es gut.
Denn Versöhnung ist der einzige Ausweg aus dem Teufelskreis von Stolz und
Wiedergutmachung. Hier und in der Urversion dieser Geschichte, die bereits im
Alten Testament steht. Dort trägt Jakobs Bruder den Namen Esau: 1. Mose Kapitel
32-33.