«Gott spricht auch noch heute.» Das ist vielen Gläubigen wichtig. Einige erfahren sein Reden übernatürlich durch Träume oder Visionen. Die meisten sind davon überzeugt, dass sie Führung durch die Bibel erleben – aber wie geschieht das?
Kein Zweifel, die Bibel ist mehr als ein normales
Buch. An etlichen Stellen darin wird der Anspruch erhoben, dass sie
«inspiriert» ist, von Gott eingehaucht. Doch wie das funktioniert haben soll,
ist ungeklärt – genauso, was das heute für konkrete persönliche
Entscheidungsfragen bedeutet. Die Herausforderung ist, dass die Bibel schon
«redet», aber eben vielen Menschen etwas Unterschiedliches sagt. Je nach
kulturellem Hintergrund, gesellschaftlicher Stellung, Bildungsstand, Geschlecht
und vor allem Gemeindezugehörigkeit hören Christinnen und Christen Gottes Reden
darin sehr unterschiedlich. Wenn eine überzeitliche Eindeutigkeit auch in
praktischen und persönlichen Fragen das Ziel wäre, dann wäre dies ein echtes
Problem. Doch tatsächlich versehen die meisten Christen persönliche Führung so
individuell, dass sie bei aller Bibeltreue darüber hinweggehen. Kann Führung durch
die Bibel geschehen? Und wenn ja, wie?
Gibt es so etwas wie eine exakte Führung durch die
Bibel?
Das landläufige Verständnis von Gottes Führung durch
die Bibel sieht so aus, dass man – suchend oder zufällig – einen Bibeltext
liest, der durch einzelne Stichwörter oder Handlungsanweisungen in die eigene
Situation passt. Generationen von Gläubigen haben so durch Bibelverse
Bestätigungen für ihre Berufswahl, die Partnerin oder den Partner fürs Leben
und in vielen anderen Fragen erhalten. Das ist sicher möglich, allerdings
bleibt diese Art der Führung zwangsläufig subjektiv. Der «sprechende» Vers
steht nämlich nicht in der Bibel, weil man selbst zweitausend Jahre später eine
völlig anders gelagerte Frage hat und nach Antwort sucht.
Weniger spektakulär, aber deutlich ergiebiger ist es,
in der Bibel nach allgemeiner Führung zu suchen: «Welche Perspektive kann ich
auf die Welt haben? Welche Werte sollten mich bestimmen? Wie möchte Gott mich
prägen? Gibt es etwas, das ich (wie wir alle) in der Welt tun soll?» Das
Ergebnis mag nicht so geistlich klingen wie ein vollmundiges «Der Herr hat zu
mir gesprochen!», aber es führt tatsächlich in eine hohe Eigenverantwortung,
wenn man die Leitlinien der Bibel ernst nimmt und auf dieser Basis eigene
Entscheidungen trifft. Noch einmal: Es mag auch spezifischere Antworten Gottes
auf unsere Fragen geben, doch nicht sie sind der Kern der Bibel, sondern so
allgemeine Grundwerte wie Gott und die Mitmenschen mit vollem Einsatz zu lieben
(Matthäus, Kapitel 22, Vers 37–40).
Mehr als persönliche Orientierung
Die Schattenseite einer direkten und persönlichen
Führung in Einzelfragen kam noch nicht zur Sprache: Was ist, wenn Gott nicht
antwortet? Denn genau das geschieht immer wieder – auch wenn es selten
thematisiert wird. Nun steckt hinter dem Nicht-Antworten Gottes kaum sein Desinteresse
an den Fragenden, eher seine Erwartung: «Ich habe dir den Rahmen gesteckt,
entscheide doch bitte selbst.» Solch ein Denken und das Orientieren an Gottes
Wort, um alltägliche Entscheidungen in einer komplexen Welt treffen zu können,
eröffnet neue Horizonte. Wir müssen nicht mehr auf Gottes direktes Reden
warten, weil er ja eigentlich bereits geredet hat. Der Prophet Micha
unterstreicht dies deutlich in Kapitel 6, Vers 8:
«Es ist dir gesagt, o Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert: Was
anders als Recht tun, Liebe üben und demütig wandeln mit deinem Gott?» Dies ist
Michas Antwort an Gottes Volk, das nach individueller Wegweisung sucht und sich
gleichzeitig aus Politik, gesellschaftlicher Ungerechtigkeit und der persönlichen
ethischen Verantwortung heraushalten möchte.
Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die
heute wichtigsten Führungsfragen in der Bibel fast nicht (Ehepartner) oder gar
nicht (Beruf) vorkommen. Dagegen nimmt es zum Beispiel vom Alten bis ins Neue
Testament relativ breiten Raum ein, wie Gottes Nachfolger mit «Fremdlingen»
umgehen sollen, also mit Asylanten, Migranten, Fremdarbeitern. Ist es nicht so
etwas wie die Gebetserhörung für das Anliegen vieler Generationen von Christen,
die beteten: «Herr, schenke uns offene Türen, um anderen Menschen deine Liebe
zu zeigen»? Jetzt sind die Türen vielfach offen, doch nicht die Christen gehen
hinaus, sondern die anderen kommen herein.
Das Beispiel des Umgangs mit Fremden und
Andersgläubigen ist nur eines von vielen. Die Bibel betont viele Werte, die
keine exakte Gebrauchsanweisung für heute enthalten, aber trotzdem das Handeln
der Menschen heute bestimmen sollten. Wer nur nach persönlicher Führung sucht,
übersieht dabei allerdings schnell die grossen Linien von Gottes Willen.
Die Bibel zeigt Gottes Wesen
Wenn das oben Gesagte stimmt, dann ist die Bibel mehr
als das allumfassende «Handbuch zum Leben», in dem jede Detailfrage geklärt
wird. Dann muss man nicht unbedingt darin suchen, ob man nach Mainz umziehen
oder weiter in Bern wohnen sollte. Dann geht es nicht darum, in
Entscheidungsfragen auf Gottes konkretes Reden zu warten, sondern eher darum,
dem Gott zu begegnen, der sich in der Heiligen Schrift offenbart – dem Gott,
der Fremde liebt, dem Gott, der allen Menschen mit seiner Liebe begegnen und
sie heilen möchte …
Die Bücher der Bibel enthalten jede Menge Geschichten, Gedichte,
Anweisungen, Briefe und Offenbarungen. Vieles darin ist uneindeutig. Was
bedeutet der Text überhaupt? Was hat er uns heute zu sagen? Manches lässt sich
klären, denn die Auseinandersetzung mit der Bibel – über das Suchen nach
Einzelantworten hinaus – ist durchaus erhellend. Anderes bleibt offen
beziehungsweise kann dazu dienen, damit zu ringen, allein und gemeinsam. Die
Ergebnisse sind Führung, Warnung, Herausforderung, Trost und manches mehr. Vor
allem aber unsere Eigenverantwortung, auf der Basis dessen Entscheidungen zu
treffen, wie Gottes Liebe und die zu seinen Menschen aussieht.