Wer gab uns das Neue Testament?

Das St. Katharinenkioster im Herzen der Sinai-Wüste, wo Tischendorf eine seiner berühmtesten Handschriften fand: den Codex Sinaiticus.

In den vorhergehenden Kapiteln haben wir gesehen, dass die Bibel aus zwei Teilen besteht, die sich deutlich voneinander unterscheiden: das Alte Testament (oder: Buch des Bundes), das die älteste Geschichte der Welt und die Geschichte des Volkes Israel bis wenige Jahrhunderte vor Beginn unserer Zeitrechnung beschreibt, und das Neue Testament, das die Geschichte von Jesus Christus und der christlichen Urgemeinde beschreibt. Beide Teile haben ihre eigene Entstehungsgeschichte; für die des Alten Testaments lieferten die Israeliten den Löwenanteil - das Alte Testament ist ja gleichzeitig das heilige Buch der Juden -, und für die überlieferung des Neuen Testaments sind die Christen verantwortlich. Genau wie in Kapitel 3 das Alte Testament wollen wir nun das Neue Testament erforschen: Wie entstanden die Bibelbücher? Wie wurden sie zusammengefügt? Welche Handschriften haben wir vom Neuen Testament? Gibt es andere Hilfsmittel, die uns helfen, die Glaubwürdigkeit des Textes festzustellen? Wie hat man versucht, den ursprünglichen Text zu rekonstruieren, und wie glaubwürdig ist dieser Text heute?

Autoren und Zusammensteller

Wir sprachen in Kapitel 2 schon kurz über die früheste Zusammensteilung des Neuen Testaments. Genau wie beim Alten Testament sind die ursprünglichen Handschriften der neutestamentlichen Bibelbücher (die sogenannten "Autographa") nicht mehr vorhanden. Das wäre auch kaum möglich, denn der Papyrus, auf dem sie geschrieben wurden, ist zweifellos nur begrenzt haltbar. Zum Glück aber wurden die Autographa nach einer gewissen Zeit auf neue Papyrus-Rollen geschrieben, und das über einen Zeitraum von vierzehnhundert Jahren. Die Bücher des Neuen Testaments wurden in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts geschrieben und waren meistens an örtliche Gemeinden gerichtet (so die meisten Briefe von Paulus). Einige Bücher richteten sich an Einzelpersonen (die Briefe an Timotheus und der 2. und 3. Johannesbrief), andere wiederum wandten sich an einen breiteren Leserkreis (der Jakobusbrief, das Buch der Offenbarung). Manche Teile wurden in Jerusalem geschrieben (Jakobus), andere wiederum in Kleinasien (Johannes) und in Süd-Ost-Europa (der Römerbrief und die Briefe an die Thessalonicher) oder sogar in Rom (Epheserbrief, Philipper und Kolosser). Die Orte, wo die Bücher geschrieben wurden, wie auch die Orte, in denen sie empfangen wurden, lagen meist weit voneinander entfernt. Ausserdem gab es nur begrenzte Möglichkeiten der Kommunikation und des Transportes; so kann man verstehen, dass es einige Zeit dauerte, bis die Urgemeinde Abschriften aller neutestamentlichen Bibelbücher hatten. Aber trotzdem fingen die ersten Gemeinden sofort an, die authentischen apostolischen Schriften zu Sammlungen zusammenzufassen. (Auf die Probleme, die beim Unterscheiden zwischen authentischen und nichtauthentischen, d.h. zwischen kanonischen und apokryphen Schriften auftauchen, werden wir in Kapitel 5 näher eingehen.) Bischof Klemens von Rom, der im Jahr 95 einen Brief an die Gemeinde zu Korinth schrieb, kannte offensichtlich nicht nur den Brief des Paulus an die Römer, sondern auch mindestens einen seiner Briefe an die Korinther (siehe 1. Klemens 47,1-3) und wahrscheinlich auch noch andere. Anscheinend besass die Gemeinde in Rom schon um 95 n. Chr. Kopien einer Reihe neutestamentlicher Schriften.

Schon zu Zeiten des Neuen Testaments wurde eine derartige Verbreitung und die öffentliche Verlesung dieser Schriften befürwortet. Der Apostel Paulus befiehlt mehrmals, seine Briefe öffentlich vorzulesen (1. Thess. 5,27; 1. Tim. 4,13), und auch, dass das in verschiedenen Gemeinden geschehen soll: "Und wenn der Brief bei euch gelesen ist, so sorget, dass er auch in der Gemeinde zu Laodicea gelesen werde und dass ihr den von Laodicea leset" (Kol. 4,16). Johannes verband sogar einen besonderen Segen mit dem Vorlesen des Buches der Offenbarung (siehe Offb. 1,3). Dieses Buch war an sieben verschiedene Gemeinden in Kleinasien (Kap. 1,4 + 11) gerichtet, die das Buch untereinander weitergeben sollten. Es wird deutlich, dass das öffentliche Vorlesen und Zirkulieren gleichzeitig bedeutete, dass die apostolischen Schriften, obwohl sie oft an eine bestimmte Gemeinde gerichtet waren, doch für alle Gemeinden Autorität hatten. Darum auch das schnelle Kopieren und, wie man es noch deutlicher in den mehr allgemein gehaltenen Briefen sehen kann, die schnelle Verbreitung (siehe Jakobus 1,1; 1. Petr. 1,1). Manche meinen, auch der Epheserbrief sei ursprünglich so ein allgemeiner Brief gewesen, weil die Worte "in Ephesus" in verschiedenen alten Handschriften fehlen.

So entstanden in den Urgemeinden also Sammlungen von Kopien neutestamentlicher Schriften. Der Apostel Petrus war anscheinend im Besitz einer Sammlung von Paulusbriefen und stellte diese den "anderen Schriften" gleich (2. Petrus 3,15 + 16). Das ist ein einleuchtender Hinweis darauf, dass man auch anderswo solche Kollektionen von Abschriften besass. Das zeigt sich auch noch in der Tatsache, dass neutestamentliche Autoren einander manchmal erwähnen. So zitiert Paulus z.B. in 1. Timotheus 5,18 das Evangelium nach Lukas (Kap. 10,7) als "die Schrift". So waren also vor Ende des ersten Jahrhunderts die neutestamentlichen Bücher nicht nur geschrieben, sondern auch (in vielen Kopien) weit verbreitet. Dieser Prozess des Kopierens sollte sich wegen der zunehmenden Nachfrage noch viele Jahrhunderte fortsetzen, bis die Erfindung der Buchdruckerkunst das Abschreiben von Hand überflüssig machte.

Datum: 09.08.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel

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