Neue Entdeckungen

Wieder kam es auf der Sinaihalbinsel zu Neuentdeckungen; dort entdeckten zwei gelehrte Zwillingsschwestern im Jahre 1892 den Codex Syro-Sinaiticus: eine altsyrische Übersetzung (älter als die Peschitta; siehe Kapitel 2 und unten), eine der frühesten Übersetzungen des Neuen Testaments aus dem zweiten Jahrhundert, in einer Kopie aus dem fünften Jahrhundert. Damit wurde der "neutrale" Text untermauert, der aber gleichzeitig, auf die gleiche Art wie der "westliche" Teil, von ihm abwich. Mit aus diesem Grund verlagerte sich die Debatte so nach und nach vom Konflikt zwischen dem "neutralen" und dem "byzantinischen" zu einem Konflikt zwischen dem "neutralen" und dem "westlichen" Text. Diese Diskussion wurde noch durch das Problem, das das Diatessaron verursachte, belebt (Diatessaron = "eins aus vieren"; eine "Schneide-und-klebe"-Zusammensetzung der vier Evangelien, die vom Kirchenvater Tatianus im zweiten Jahrhundert in griechisch und syrisch verfasst wurde).

Im 19. Jahrhundert tauchten armenische, lateinische und arabische Übersetzungen eines Kommentars des schon erwähnten Kirchenvaters Ephraem zu diesem Diatessaron auf, und im 20. Jahrhundert fand man auch Fragmente von Übersetzungen dieses Werkes selbst. Dieses sehr frühe Werk zeigte, dass die "westliche" Textstruktur schon sehr früh vorkam, denn das Werk war deutlich davon beeinflusst. Ferner widerlegte diese Forschung Behauptungen einzelner Bibelkritiker, Tatianus habe bestimmt ganz andere Evangelien als die unseren gebraucht. Denn die Bibelkritiker vertraten die Meinung, dass unsere heutigen Evangelien, wenn sie damals überhaupt schon vorhanden waren, mit ihren Wundergeschichten und ihrem Nachdruck auf die Gottheit Christi um 160 n. Chr. bestimmt noch nicht als autoritativ angesehen wurden. Ephraems Kommentar (von dem 1957 eine Handschrift mit einem grossen Teil des syrischen Originals wiedergefunden wurde!) zeigt deutlich, dass Tatianus um I60 genau dieselben vier Evangelien, etwa in der gleichen "Textgestaltung", vor sich hatte wie wir heute; und dass sie offensichtlich damals schon so autoritativ waren, dass er es nicht gewagt hat, aus irgend einem anderen Werk (z.B. den apokryphen Evangelien) oder aus mündlichen Überlieferungen auch nur das Geringste zu zitieren! Ausserdem waren die Evangelien damals offensichtlich schon so bekannt und weitverbreitet, dass innerhalb von sechzig Jahren, nachdem das Johannesevangelium geschrieben worden war, schon syrische Übersetzungen benötigt wurden, wie der Codex Syro-Sinaiticus zeigt. Die nächste, wichtige Entdeckung fand in Ägypten statt: Der amerikanische Kunstmaler C. L. Freer kaufte 1906 dem arabischen Kaufmann Ali in Gizeh einige Bibelhandschriften ab. Darunter befand sich eine Sammlung neutestamentlicher Fragmente, die jetzt als Codex Washingtonanus oder Freerianus bekannt sind. Der Teil dieser Schriften, der die Evangelien enthält, ist weitaus das Älteste (aus dem 4. Jhdt.) und Beste. Das Wichtigste an diesem Teil war, dass er eine ganz neue Textstruktur aufzeigte, die sich mit dem neutralen/alexandrinischen und dem westlichen Text die Waage hielt. Man entdeckte schon sehr bald andere Handschriften mit derselben Textstruktur, die man später als "caesareanische Struktur" bezeichnete. Erstens zeigte der Text von Markus 5-16 deutliche Ähnlichkeiten mit einer schon im Jahre 1877 von Ferrar und Abbot publizierten Studie über vier Minuskeln, die unter dem Namen Familie 13 bekannt sind. Zweitens war eine deutliche Verbindung (vor allem wieder im Markusevangelium) zwischen dieser Familie und einer im Jahre 1902 von Kirsopp Lake publizierten Studie vier anderer Minuskeln zu sehen, die Familie 1 genannt wurde. Drittens richtete Prof. Hermann von Soden im Jahre 1906 die Aufmerksamkeit auf eine späte, merkwürdige Uniale, die aus dem Kloster Koridethi im Kaukasus stammt und sich jetzt in Tiflis (Tbilisi) in Georgien befindet. Auch dieser Codex Koridethianus aus dem neunten Jahrhundert hatte mehr oder weniger dieselbe Textstruktur. Ausserdem wies B. H. Streeter 1924 nicht nur auf eine deutliche Verbindung mit der palästinensisch-syrischen Übersetzung (siehe unten) hin, sondern bewies auch, dass der grosse Gelehrte Origenes (gest. 254) nach seinem Umzug von Alexandrien nach Cäsarea, wie aus seinen Bibelzitaten hervorgeht, vor allem diese Textstruktur gebrauchte. Daher wurde diese Handschriftengruppe auch "cäsareanisch" genannt (obwohl es sich später herausstellte, dass Origenes diesen Text bereits in Alexandrien gebraucht haben muss). Es zeigt sich, dass auch die antiken georgischen und armenischen Übersetzungen diese Textstruktur aufwiesen. So war die anfänglich unbedeutende Familie 13 von Ferrar und Abbot zu einer neuen, selbständigen Gruppe der Evangelienhandsehriften herangewachsen! (Inzwischen erwies sich, dass andere Evangelien-Fragmente des Washingtonianischen Codex auch die schon bekannten Textstrukturen aufwiesen: siehe unten.)

Die Papyri

Jetzt ist es aber an der Zeit, dass wir über eine Reihe anderer bedeutungsvoller Entdeckungen sprechen, nämlich über die Funde biblischer Papyri aus den allerfrühesten Jahrhunderten der Kirchengeschichte. Diese Entdeckungen wurden in den heissen, trockenen Gebieten Ägyptens gemacht; hier konnte der vergängliche Papyrus am besten erhalten bleiben. Schon im 18. und 19. Jahrhundert fand man in Ägypten verschiedene uralte Handschriften, wie die der Ilias von Homer, die aber von den Bibelkritikern kaum beachtet wurden. Das änderte sich aber schnell, als der berühmte Textkritiker Sir Frederic Kenyon vom Britischen Museum eine ägyptische Papyrusrolle mit einem Werk von Aristoteles, das man bis dahin nur dem Namen nach kannte, veröffentlichte. Plötzlich richteten sich die Augen der Gelehrten auf die antiken Gräber und Abfallstätten Ägyptens, die zwei in diesem Land bekanntesten Fundorte für Papyri: auf die Gräber, weil die alten Ägypter die Gewohnheit hatten, ihren Verstorbenen allerlei Utensilien (u.a. auch Schriften), die sie zu Lebzeiten gebraucht hatten, für das Jenseits mitzugeben; auf die Abfallstätten, weil die aussortierten Papyrusrollen dort in den regenarmen Gebieten vor Feuchtigkeit verschont blieben und die Sandverwehungen der Wüste sie vor der Sonne beschützten.

Im Jahr 1897 begannen zwei junge Männer, Grenfell und Hunt, in der Ortschaft Oxyrhynchus in einer antiken Abfallstätte zu graben. Oxyrhynchus ist eine ägyptische Ortschaft in der libyschen Wüste, ca. 15 km westlich des Nils. Schon bald entdeckten sie hier und vor allem auch in dem etwas nördlicher gelegenen Fayurn Abertausende von Papyri, darunter auch einige neutestamentliche Fragmente aus dem dritten Jahrhundert. Ein Studium dieser Unterlagen erbrachte bald den Beweis, dass die ägyptischen Christen in dieser sehr frühen Zeit im wesentlichen denselben Text hatten, wie wir ihn in den grossen Codices aus dem vierten und fünften Jahrhundert antreffen. Das ist ein wichtiger Punkt, weil einige frühere Bibelkritiker oft herablassend behauptet hatten, die Kirchenfürsten in den Tagen Konstantins des Grossen hätten drastische Veränderungen im Neuen Testament vorgenommen. Zahllose Texte und Übersetzungen aus dem dritten Jahrhundert und davor haben heute das Gegenteil ausreichend bewiesen - und wieder zerplatzte eine bibelkritische Attacke wie eine Seifenblase. Die einfachen Bauern Ägyptens im zweiten Jahrhundert hatten im Grunde genau dasselbe Neue Testament wie die Gelehrten des 20. Jahrhunderts. Übrigens wiesen die Textstrukturen dieser alten Papyri neben verschiedenen anderen, die offensichtlich "alexandrinischer" Herkunft waren, oft deutlich "westliche" Züge auf: kein einziger war "byzantinisch".

Diese Papyri machten auch noch etwas anderes ganz deutlich: Viele hatten lange Zeit gemeint, das Neue Testament sei in einer speziellen Art der "Sprache des Heiligen Geistes" geschrieben, weil sein Griechisch so sehr von dem bekannten klassischen Griechisch abwich. Die Papyri zeigten aber, dass das Neue Testament in der alltäglichen Umgangssprache des ersten Jahrhunderts geschrieben war: dem Koie-Griechisch. Das war nicht, wie einige Kirchenväter gemeint hatten, eine "speziell für das Neue Testament entworfene Sprache", sondern die allgemein gesprochene Sprache des Mittelmeerraumes jener Tage, die Handelssprache, die Sprache der Masse, des Marktes. Als man diese Sprache durch die Papyri besser kennenlernte, fiel auch ein neues Licht auf verschiedene Ausdrücke des Neuen Testaments. Ausserdem war das Griechisch des ersten Jahrhunderts des Neuen Testaments ein weiterer Beweis dafür (entgegen der Meinung bestimmter Bibelkritiker), dass es in der Tat im ersten Jahrhundert geschrieben wurde. So erwies sich die grosse Bedeutung dieser Papyri schon, bevor die "grossen Bibelhandschriften" aus diesem Material gefunden wurden.

Datum: 04.08.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel

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