Das prophetische Kriterium und das Kriterium der Autorität

Das wichtigste Kriterium war zweifellos der prophetische bzw. apostolische Charakter eines Buches. Wenn jemand ein anerkannter Prophet Gottes war, war es für jedermann klar, dass seine Schriften nicht dem Willen eines Menschen entsprungen waren, sondern der Eingebung des Heiligen Geistes (2. Petrus 1,20 + 21). Gott redete zu den Vätern durch die Propheten (Hebräer 1,1). Und wenn ein Buch durch einen Apostel Jesu Christi geschrieben wurde, dann musste es als kanonisch angenommen werden (vgl. Galater 1,1 + 8 f. + 11 f.). Einerseits ist kein Fall bekannt, wo ein wirklich prophetisches oder apostolisches Buch als nicht-kanonisch verworfen wurde, andererseits wurden Bücher, die dieses Kennzeichen nicht hatten, von den Gläubigen sofort verworfen (2. Thess. 2,2; vgl. auch 1. Johannes 2,18 f.; 4,1-3; 2. Korinther 11,13).
Wir finden also im Grunde im Alten Testament ausschliesslich prophetische Bücher: erst die 5 Bücher Moses, der ein Prophet war (5. Mose 18,15 + 18), dann die Bücher der frühen und späteren Propheten (vermutlich von Josua, Samuel, Jeremia und Esra geschrieben, weiter von Jesaja, Jeremia, Hesekiel und 12 "kleineren Propheten": siehe Kapitel 3), und schliesslich die Gruppe der "Schriften", die aber genauso prophetisch sind, wenn sie auch nicht immer von Männern, die von "Beruf" Prophet waren, geschrieben wurden (z.B. die Könige David und Salomo und der politische Funktionär Daniel). Der prophetische Charakter dieser Schriften wird daran erkennbar, dass die älteste Einteilung des Alten Testaments nicht dreiteilig (Gesetz, Propheten, Schriften), sondern zweiteilig war. Während und nach der Gefangenschaft sprach man von "dem Gesetz (des Mose)" und "den Propheten" (Daniel 9,2+ 6 + 11; Sacharja 7,12; Nehemia 9,14+ 29 f.), und so finden wir es auch fast immer im Neuen Testament (Matthäus 5,17 f; 22,40; Lukas 16,16 +29 + 31; 24,27; Apostelgeschichte 13,15; 24,14; 26,22).

Das Alte Testament besteht also ausschliesslich aus Büchern, die von Männern mit prophetischer Berufung und Begabung (und darum von Gott getrieben) geschrieben wurden. Auch die Bücher des Neuen Testaments wurden von Männern mit spezieller Berufung und Begabung geschrieben, nämlich zuerst und vor allen Dingen von den Aposteln. Von den acht neutestamentlichen Verfassern gehörten drei (Matthäus, Johannes und Petrus) zu den zwölf Jüngern (oder Aposteln) des Herrn Jesus (Lukas 6,13-15). Paulus war der grosse Apostel der Heiden, der neben den Zwölfen von Christus berufen wurde (siehe z.B. Römer 1,5; 2. Tim. 1,11). Der Briefschreiber Jakobus, der Bruder von Jesus, war nach Galater 1,19 auch als Apostel bekannt: Manche meinen sogar, er sei identisch mit Jakobus, dem Sohn des Alphäus, also auch einer von den Zwölfen. Der Briefschreiber Judas war ein Bruder des Jakobus. Manche meinen, dass er der in Lukas 6,16 genannte Apostel Judas ist. Auf jeden Fall gehört er zum Kreis der Apostel (vgl. Apostelgeschichte 15,27). Dasselbe galt für die Evangelisten Markus und Lukas; obwohl sie nicht Apostel genannt wurden, waren sie enge Freunde und Mitarbeiter der Apostel: Markus der des Apostels Petrus (vgl. 1. Petrus 5,13) und Paulus (2. Tim. 4,11; Philemon 24); Lukas der des Paulus (dieselben Verse). Eine nur apostolische Verfasserschaft war sowieso nicht ausschlaggebend für den kanonischen Charakter eines Buches: Die christliche Kirche ist auf dem Fundament der Apostel und (neutestamentlichen) Propheten gebaut (Epheser 2,20; vgl. 3,5). Also haben Männer, die zwar keine Apostel waren, aber doch eine prophetische Berufung hatten, das Fundament mitgebaut. Ihre Bücher haben demnach zwar keinen apostolischen Verfasser, wohl aber apostolische Autorität und Zustimmung. Gerade wegen dieses not-wendigen prophetischen Charakters eines Bibelbuches wurde der zweite Petrusbrief lange Zeit nur zögernd als kanonisch angesehen. Erst als die Kirchenväter davon überzeugt waren, dass er keine Fälschung, sondern wirklich von Petrus geschrieben war (vgl. 2. Petrus 1,1), erhielt er seinen festen Platz im neutestamentlichen Kanon.

Das Kriterium der Autorität

Manchmal war die Berufung eines Propheten nicht sofort deutlich zu erkennen, oder man war sich nicht sicher, wer der Verfasser eines Buches war, wie z.B. bei dem Brief an die Hebräer. In diesem Fall spielte ein zweites Kriterium eine grosse Rolle, nämlich die göttliche Autorität eines Buches. Jedes Buch der Bibel redet in autoritärem Ton und direkt im Namen Gottes; oft sogar mit einem ausdrücklichen: "So spricht der Herr", oder "Das Wort des Herrn geschah zu mir", oder "Der Herr sprach zu mir". In den historischen Büchern finden wir autoritative Aussagen über das Handeln Gottes, in den Lehrbüchern finden wir solche über das, was Gläubige tun sollten. Die neutestamentlichen Bücher sind zwar deutlich von apostolischer Autorität, aber letztlich gibt es nur eine absolute Autoritätsinstanz, nämlich Gott selber. Die Apostel und Propheten üben nur die Autorität ihres Herrn aus (vgl. 1. Korinther 14,37; Galater 1,1 +12).
Es ist nicht immer ganz leicht, die wirklich göttliche Autorität zu erkennen. Manche apokryphen Bücher erheben den Anspruch, auch autoritativ zu sein, aber das ist kein so absolutes Kriterium wie der prophetische Charakter eines Buches. Darum wurden manche Bücher, die behaupteten, göttliche Autorität zu besitzen, aus anderen Gründen doch verworfen. Bei anderen Büchern war es genau um-gekehrt: Es war nicht sofort klar, dass sie mit göttlicher Autorität sprachen. Ein Beispiel dafür ist das Buch Esther, in dem der Name Gottes überhaupt nicht einmal vorkommt. Erst als allgemein deutlich wurde, dass Gottes bewahrendes Handeln mit seinem Volk und damit seine Pläne und sein Vorhaben mit ihm sehr deutlich in diesem Buch zum Ausdruck kamen, erhielt es seinen Platz im alttestamentlichen Kanon.
Die Tatsache, dass bei bestimmten Büchern gezögert wurde, braucht uns nicht zu beunruhigen, weist es doch darauf hin, dass man mit Gottes Wort nicht oberflächlich, sondern gerade mit Sorgfalt und Unterscheidungsvermögen zu Werke ging. War man nicht von der göttlichen Autorität eines Buches überzeugt, wurde es verworfen. Gott gab seinem Volk zu dieser Aufgabe besondere Vollmacht. Die gottesfürchtigen Juden und Christen waren gewiss nicht immer brillante Persönlichkeiten, waren aber wohl in der Lage, die göttliche Autorität einer Schrift zu erkennen, wenn sie darin vorhanden war. Als Christus die Pharisäer fragte, ob Johannes der Täufer auf Grund menschlicher oder göttlicher Autorität taufte, und sie antworteten, sie wüssten es nicht, wollte Er ihnen auch nicht sagen, auf Grund welcher Autorität Er handelte. Mit anderen Worten, wenn Menschen die göttliche Autorität, die ihnen begegnet, nicht erkennen, wird auch kein anderes Argument oder Zeichen sie überzeugen können.

Datum: 18.07.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel

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