Ein viertes Kennzeichen kanonischer Bücher ist deren historische und dogmatische Genauigkeit. Dieses Kriterium wurde vor allem im negativen Sinne gebraucht, so dass jedes Buch, das im Lichte früherer Offenbarungen offensichtlich inhaltlich Unrichtigkeiten enthielt, auf Grund der einfachen Überlegung, dass Gottes Wort wahr und konsequent sein muss, als nichtkanonisch verworfen wurde. Das Buch Judith z.B. ist mit historischen Unrichtigkeiten durchsetzt, und andere Bücher enthalten zum Beispiel die vollkommen unbiblische Empfehlung, Tote anzubeten. Enthielt ein Buch keine historischen Fehler, war damit natürlich noch lange nicht gesagt, dass es kanonisch war; enthielt es aber solche, konnte es ohne weiteres verworfen werden. Darum prüften die Beröer die Lehre des Paulus auch sehr genau - an Hand der Schriften, um festzustellen, ob seine neue Lehre mit den alten Offenbarungen (Apostelgeschichte 17,11) übereinstimmte, damit sie dann »das gepredigte Wort Gottes annehmen konnten, »nicht als Menschenwort, sondern, wie es das in Wahrheit auch ist, als Gottes Wort« (vgl. 1. Thess. 2,13). Viele apokryphen Bücher wurden wegen ihrer (dogmatischen) Irrlehren und historischen Fehler verworfen, auch wenn sie oft mit viel Autorität redeten. Schliesslich gibt es noch das Kriterium der ursprünglichen Aufnahme eines Buches. Wie wurde das Buch von den Personen angenommen, an die es in erster Linie gerichtet war? Gerade sie waren doch am besten in der Lage zu erkennen, ob es Gottes Wort war oder nicht. Aus diesem Grunde versuchten spätere Generationen zu erforschen, ob und wie ein Buch von den ersten Adressaten ursprünglich empfangen wurde. Da das Nachrichten- und Transportwesen zu jener Zeit noch sehr umständlich war, kostete es oft viel Zeit und Mühe, hierüber Informationen zu bekommen. Das war einer der wesentlichsten Gründe, weshalb es so lange dauerte, bis bestimmte neutestamentliche Bücher allgemein als kanonisch anerkannt wurden. Ausserdem wurde dieses Kriterium vor allem im negativen Sinn gebraucht: Wurde ein Buch von den ersten gläubigen Empfängern nicht sofort und allgemein angenommen, verwarf man es ohne weiteres. Aber umgekehrt bedeutete die Tatsache, dass ein Buch von bestimmten Gläubigen an einem bestimmten Ort angenommen wurde, noch nicht ohne weiteres, dass es damit gleich ein inspiriertes Buch sein musste. Während späterer Generationen akzeptierten manche Christen, die nicht genügend über die ursprüngliche Annahme oder Ablehnung eines Buches aufgeklärt waren, örtlich und zeitweilig Bücher, die aber tatsächlich nichtkanonisch waren, bis sie dann darüber aufgeklärt wurden. Dieser letzte Punkt zeigt schon an, wie wichtig es war, zu einer allgemeinen Festlegung der wirklich kanonischen Bücher zu kommen, damit in dieser Hinsicht eine Einheit in die christliche Kirche kommen würde. Hinsichtlich des Kanons des Alten Testaments war dieses Problem weniger gross gewesen, weil die Israeliten eine kleine und feste Gemeinschaft bildeten und ihre Bücher anfänglich nur wenig Verbreitung fanden. Für sie entstanden diese Probleme erst, nachdem 70 n. Chr. Jerusalem verwüstet und die jüdische Gemeinde zerstreut wurde. Ein weiterer Grund war, dass viele christliche Schriften in Umlauf kamen. So entstand für die Juden die Notwendigkeit, zu einer formellen Aussage über den alttestamentlicheii Kanon zu kommen, wie er in der Tat später im Talmud festgelegt wurde. Für die zerstreut wohnenden Christen war die Notwendigkeit einer formellen Festlegung des neutestamentlichen Kanons noch viel grösser. Dafür gab es drei Gründe: (a) Ein dogmatischer Grund: Im Jahre 140 n. Chr. kam der Irrlehrer Marcion nach Rom, verkündete dort eine neue Lehre und bekam schon bald viele Anhänger. Er verwarf das Alte Testament ohne weiteres und stellte einen stark verkürzten Kanon des Neuen Testaments auf, der nur das Lukasevangelium und die Briefe des Paulus (ausser denen an Timotheus und Titus) enthielt, die er zudem noch nach eigenem Gutdünken veränderte! Dadurch entstand für die Kirchenväter die Notwendigkeit, nicht einen »Alternativ-Kanon« aufzustellen, sondern öffentlich zu zeigen, welches der bis dahin allgemein angenommene Kanon war. Alle Christen mussten wissen, auf welche Bücher sie sich berufen konnten. (b) Ein kirchlicher Grund: In vielen Orten, vor allem in den Ostkirchen, wurden Bücher vorgelesen, die oft hoch geschätzt, aber von anfechtbarem Inhalt waren. Auch nachdem sie als nicht-kanonisch abgewiesen worden waren, wurden bestimmte Bücher erbaulicher Art noch in den Gemeinden vorgelesen; darum kommen sie auch in manchen alten Handschriften wie etwa dem Codex Sinaiticus vor (siehe Kap. 4). Aber es musste doch, besonders in Verbindung mit der Frage, welche Bücher in Fremdsprachen übersetzt werden sollten, klipp und klar festgestellt werden, welche erzieherischen Bücher kanonisch waren und welche nicht. (c) Ein weltlicher Grund: Als im Jahre 303 n. Chr. die letzte grosse Christenverfolgung im Römischen Reich ausbrach, befahl Kaiser Diokletian, alle neutestamentlichen Schriften zu vernichten. Dazu mussten die Gemeinden alle ihre heiligen Buchrollen ausliefern. Dies betrachteten die Gläubigen jedoch als regelrechten Abfall von Gott und versuchten, die Behörden durch Abgabe anderer christlicher nichtkanonischer Bücher abzuspeisen, in der Hoffnung, dass die »Polizisten« den Unterschied nicht bemerken würden. Auf diese Art und Weise wurde den ersten Christen der praktische Unterschied zwischen kanonischen und nichtkanonischen Büchern besser deutlich und öffentlich bekannt.Die Notwendigkeit des Kanons
Datum: 15.07.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel