Der neutestamentliche Kanon

Wir haben schon gesehen, dass die endgültige Festlegung des Kanons des Neuen Testaments wegen der gewaltigen Verbreitung und der schwierigen Kommunikation (mangelhafte Nachrichtenmedien und Transportmittel) der ersten Christen sehr viel länger dauerte als die Festlegung des Alten Testaments. Aber bereits die allerfrühesten Kirchenväter (die »apostolischen Väter«, wie Ignatius und PoIykarp; Anfang des zweiten Jahrhunderts) wussten, dass es einen Unterschied zwischen ihren Schriften und denen der Apostel gab. Ignatius schreibt in seinem Brief: »Ich möchte keine Befehle geben so wie Petrus und Paulus: Sie waren Apostel.« In Pseudo-Barnabas und 2. Klemens werden bereits Worte aus Matthäus zitiert als heilige Schrift. Justinus Martyrus (ca. 150) teilt uns mit, dass in den Versammlungen der Gemeinden die »Gedenkschriften, die Evangelien genannt werden« und die »Gedenkschriften der Apostel« neben den »Schriften der Propheten« gelesen werden. Wir hören jedoch noch nicht, welche Evangelien und apostolischen Bücher das sind.

Von Irenäus an (ca. 180) bekommen wir mehr Klarheit. Er war ein Schüler von Polykarp, dem Jünger des Johannes, und wurde Bischof von Lyon. Aus seinen Schriften geht hervor, dass die vier Evangelien, die Apostelgeschichte, die Briefe des PauIus (inkl. Philemon?), 1. Petrus, 1. und 2. Johannes und das Buch der Offenbarung als kanonisch angenommen waren, aber Jakobus und der Hebräerbrief gehören unter anderem noch nicht dazu. Sehr auffällig ist die Tatsache, dass der Gedanke an ein vierfaches Evangelium offensichtlich schon in der ganzen Christenheit als absolut feststehend angesehen wurde (vgl. Kap. 4 über das Diatessaron des Tatianus). Tertullian (ca. 200) kennt die vier Evangelien, die Apostelgeschichte, 13 Briefe von Paulus, 1. Petrus und 1. Johannes, sowie Judas und das Buch der Offenbarung. Interessant ist aus die­ser Zeit der Kanon Muratori, eine Liste der neutestamentlichen Bücher aus Rom (Ende 2. Jhdt., benannt nach dem Antiquitätenhändler, der ihn 1740 entdeckte). Er ist offensichtlich ein orthodoxer Protest gegen den genannten »Kanon« von Marcion und enthält die vier Evangelien, die Apostelgeschichte, 13 Briefe von Paulus, Judas, zwei Briefe von Johannes und das Buch der Offenbarung. In dieser Liste wird die »Offenbarung des Petrus« nicht ganz akzeptiert, und der »Hirte« des Hennas wird als nicht-kanonisch verworfen. Es ist merkwürdig, dass darin u.a. der Hebräerbrief und 1. Petrus fehlen, aber man nimmt an, dass das Manuskript nicht komplett ist (daher auch »Muratorisches Fragment« genannt), dass also früher diese Bücher durchaus genannt worden sein könnten. Die fehlende Kommunikation zwischen Ost und West geht sehr deutlich aus den frühesten antiken Übersetzungen hervor. Die (westliche) alt-lateinische Übersetzung enthält einige Bücher nicht, die vor allem im Osten im Umlauf waren (Hebräerbrief, Jakobus und 1. Petrus), während in der alt-syrischen (östlichen) Übersetzung einige Bücher fehlen, die vor allem im Westen bekannt waren (2. und 3. Johannes, Judas, Offenbarung). Es dauerte einige Zeit, bis die fehlenden Bücher überall bekannt wurden, aber zusammen beinhalten diese zwei ältesten Bibeln den ganzen neutestamentlichen Kanon (bis auf 2. Petrus; siehe unten).

Wie man erwarten kann, finden wir die früheste komplette Benennung des ganzen Kanons zwischen Rom und Syrien. Origenes (ca. 230) aus Ägypten veröffentlichte eine komplette Liste, die von den Christen allgemein anerkannt wurde, wobei nach seinen Aussagen Hebräer, 2. Petrus, 2. und 3. Johannes, Jakobus und Judas von einigen angezweifelt wurden. Er widerlegt das jedoch und sagt nachdrücklich, dass der Hebräerbrief von Paulus geschrieben wurde. Eusebius aus Cäsarea (ca. 340) nennt denselben Kanon (ausser dem Hebräerbrief) und dieselben von einigen Leuten angezweifelten Bücher. Cyrillus von Jerusalem (ca. 370) betrachtet alle uns bekannten Bücher, ausser dem Buch der Offenbarung, als kanonisch. Die älteste bekannte, komplette Liste der 27 neutestamentlichen Bücher stammt von Athanasius, Bischof von Alexandrien; er stellt sie in seinem Osterbrief des Jahres 367 vor. Kurz darauf sehen wir, wie im Westen durch Hieronymus und Augustinus (ca. 400) dasselbe geschieht und wie der Kanon auf den Konzilien von Hippo (393) und Karthago (397 und 419) offiziell bestätigt wird. Dabei weisen wir noch einmal nachdrücklich darauf hin, dass diese Konzilien nicht darüber berieten, welche Bücher in den Kanon aufgenommen werden sollten, sondern nur offiziell aussprachen, welche Bücher schon seit jeher von der Allgemeinheit als kanonisch angesehen wurden.

Datum: 13.07.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel

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