Was ist Inspiration?

Dieses Kapitel gehört eigentlich noch zu dem vorigen. Dort hatten wir gesehen, dass bestimmte Bücher für kanonisch erklärt wurden, weil sich herausstellte, dass sie göttliche Autorität haben. Nun wollen wir noch einen Schritt weitergehen und zeigen, dass bestimmte Bücher deshalb göttliche Autorität haben, weil sie von Gott inspiriert wurden. Hinter dem Problem »kanonisch oder apokryph« steckt also in Wirklichkeit die Frage nach der »Inspiration«. Darum werden wir uns nun mit diesem Thema befassen. Die Frage nach der Inspiration ist heute eine der fundamentalsten und aktuellsten Themen im christlichen Lager, weil viele andere Fragen, wie die Glaubwürdigkeit, Unfehlbarkeit und absolute Autorität der Bibel direkt damit zusammenhängen. Vermittelt die Bibel uns göttliche Botschaften in menschlicher, also unvollkommener Form? Oder sind etwa alle einzelnen Wörter von Gott eingegeben und damit wichtig und unfehlbar? Waren die Bibelverfasser nur »Schreibmaschinen«, die blindlings registrierten, was Gott ihnen diktierte? Die Beantwortung dieser Fragen ist für die heutige Theologie von sehr grosser Wichtigkeit (wie wir auch in Kapitel 7 und 8 sehen werden), darum wollen wir uns jetzt mit ihnen befassen. Die Ausgangsbasis für unsere Forschungen ist natürlich die Bibel selbst, denn sie sagt ja an vielen Stellen von sich, dass sie von Gott inspiriert ist (wenn dieses Wort in unserer deutschen Übersetzung auch so nicht vorkommt). Die göttliche Eingebung ist nicht einfach eine Art »poetische Eingebung«, von der die Bibelverfasser Gebrauch machten, sondern vom Heiligen Geist getrieben, schrieben sie Worte nieder, die von Gott kamen. Am besten lässt sich das erkennen, wenn wir einige der betreffenden Schriftstellen, die im Neuen Testament von der Inspiration reden, näher betrachten.

Biblische Schlüsseltexte

Die wichtigste Stelle finden wir in 2. Timotheus 3,16: »Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Aufdeckung der Schuld, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit.« Wir sehen, dass hier »der Schrift« (ein für die Bibel bekannter Ausdruck: siehe u.a. Johannes 7,38+42; 10,35; Galater 3,8+22; auch für ein­zelne Bibelstellen gebraucht: siehe u.a. Lukas 4,21; Johannes 19,37; Apostelgeschichte 8,35) ein besonderes Kennzeichen gegeben wird.

Dieses Kennzeichen ist, dass die Schrift »von Gott eingegeben« ist. Im Griechischen ist das nur ein Wort: theopneustos, welches buch­stäblich »gottgehaucht« bedeutet. Das heisst erstens, dass die Schrift oder die »heiligen Schriften« (2. Timotheus 3,15) von Gott »ausgehaucht«, d.h. von ihm ausgegangen sind; es sind seine Worte und so aufgeschrieben, wie er wollte. Und zweitens sind es Worte, die er »eingehaucht« hat, d.h. er hat sie durch Menschen (Propheten und Apostel) schriftlich festlegen lassen. Das ist »der Odem des Allmächtigen« (vgl. Hiob 32,8).

Die Inspiration ist also Gottes Werk, welches durch die Bibelver­fasser ausgeführt wurde. Die Art und Weise wird uns in 1. Petrus 1,10 + 11 näher erklärt: »Nach dieser Seligkeit haben gesucht und geforscht die Propheten, die von der Gnade geweissagt haben, die auf euch kommen sollte, und haben geforscht, worauf oder auf was für eine Zeit der Geist Christi deutete, der in ihnen war und zuvor bezeugt hat die Leiden, die über Christus kommen sollten, und die Herrlichkeit danach.« Hieraus lernen wir also folgendes: 1. dass die Inspiration durch das Wirken des Heiligen Geistes, der in den Bibelverfassern wirkte, geschah; 2. dass die Autoren beim Niederschreiben der unfehlbaren Wahrheit, deren Erfüllung gesichert ist, vom Heiligen Geist geleitet wurden, und 3. dass die Inspiration durch den Heiligen Geist so geschah, dass die menschlichen Verfasser manch-mal selber nicht begreifen konnten, was diese von Gott eingegebenen Worte eigentlich bedeuteten. In 2. Petrus 1,21 finden wir noch eine weitere wichtige Stelle, die über Inspiration spricht: »Denn es ist noch nie eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht; sondern von dem Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Namen Gottes geredet.« Hier erkennen wir, dass die Bücher der Bibel nicht in eigener Initiative des Verfassers geschrieben wurden, sondern dass die Propheten (im weiteren Sinn eine Bezeichnung für alle Bibelverfasser; siehe Kapitel 5) vom Heiligen Geist »getrieben«, ja sogar buchstäblich »getragen und mitgeführt« wurden wie die Blätter vom Wind. Inspiration ist »getrieben werden« vom Heiligen Geist. Es soll durch Seine Kraft geschehen, nicht nach den Überlegungen der Bibelverfasser, damit diese nicht ihre eigenen Gedanken niederschrieben, sondern die Gedanken Gottes, von Ihm selbst stam­mend, zum Ausdruck brachten.

Dann heisst es auch, »dass keine Weissagung in der Schrift eine Sache eigener Auslegung ist« (2. Petrus 1,20); es handelt sich um die Worte Gottes selber. Darum haben diese Worte auch göttliche Autorität, wie wir in 2. Tim. 3,16 gesehen haben: »Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Aufdeckung der Schuld, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit.«

Wir können unsere Definition von Inspiration noch etwas präzisieren: Die Bibel wurde in diesem Sinne inspiriert, dass vorn Heiligen Geist getriebene Männer »gottgehauchte« Worte geschrieben ha­ben, die für die Menschen göttliche Autorität besitzen. Wir müssen beachten, dass 2. Tim. 3,16 sagt, dass die Schrift inspiriert ist, und nicht die Verfasser. In manchen Fällen werden die Bibelverfasser auch noch andere Bücher geschrieben haben, ohne dass. diese deshalb als inspiriert anzusehen sind. Und die Verfasser haben, obwohl sie gläubig waren, auch manches falsch gemacht. Wir brauchen dabei nur an Mose, David oder Petrus zu denken. Nur die Bücher der Bibel, die sie verfassten, sind »gottgehaucht«; trotzdem waren die Autoren beim Schreiben ganz einbezogen, denn sie wurden »vom Heiligen Geist getrieben«, und wir lesen, dass »der Geist Christi in ihnen« war. Es gibt also drei Elemente im Prozess der Inspiration:
(a) Die göttliche Verfasserschaft. Das Wort ist von Gott ausgegangen, »ausgehaucht«, es sind buchstäblich seine Worte, die in der Schrift niedergelegt sind; er selbst ist Quelle und Ursache der Heili­gen Schriften.
(b) Das menschliche Werkzeug. Gott gebrauchte die Menschen, um sein göttliches Wort niederzuschreiben; diese Menschen fungierten nicht als »Schreibmaschinen«, denn sie hatten ihren eigenen Stil und Wortschatz (wie wir noch sehen werden). Gott gebrauchte ihre Persönlichkeit, um Seine Gedanken zu offenbaren. Die Bibelverfasser hatten verschiedene Ausdrucksformen, wie beispielsweise eine Flöte und eine Oboe verschiedene Töne von sich geben; aber es war Gott, der diese Instrumente »bespielte«, damit sie die Melodien hervorbrachten, die Er wollte (vgl. 1. Korinther 14,7 in anderem Zusammenhang).
(c) Das geschriebene Ergebnis. Das Produkt des »Bespielens« von seiten Gottes und des »Getriebenseins« der Verfasser ist ein geschriebenes Buch von göttlicher Autorität. Dieses Buch hat laut 2. Tim. 3,16 das letzte Wort in dogmatischen, moralischen und anderen Fragen. Nicht alles, was die Bibelverfasser gesagt oder geschrieben haben, hat diese Autorität; denn genaugenommen sind nicht die Verfasser inspiriert, sondern die »heiligen Schriften«, die sie niedergeschrieben haben, sind »gottgehaucht«.

Datum: 08.07.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel

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