1. Die Urevangeliums-Theorie. G. E. Lessing (1778) und J. G. Eichhorn (1812) meinten, die vier Evangelien seien Bearbeitungen oder Zusammenfassungen eines alten aramäischen Evangeliums der Nazoräer, während F. Schleiermacher (1825) mehr an ursprüngliche Materialsammlungen von verschiedenen Arten dachte (Kollektion von Wundergeschichten oder von Aussagen Jesu oder Leidensgeschichten usw.), die die Basis für die drei ersten Evangelien bilden würden. 2. Die Oraltraditionstheorie, die vor allem von J. K. L. Gieseler (1818) und später von B. F. Westcott (1851) aufgebaut wurde, aber im Grunde auf Theorien von Kirchenvätern wie Papias und Irenäus (2. Jhdt.) zurückgriff. Der Grundgedanke ist, dass aus der Predigt der Apostel eine Art mündliches Urevangelium entstand, das durch fortwährende Wiederholung immer festere Formen annahm, bis die drei Evangelisten es, jeder auf seine Weise, schriftlich niederlegten, möglichst unter Zuhilfenahme schon bestehender Notizen. Das Markusevangelium (das kürzeste und einfachste) sollte dabei diesem Urevangelium am meisten entsprechen. Doch dann kam der Einwand: Warum lässt Markus so viel von den Lehren Jesu Christi aus, die bei den zwei anderen wohl zu finden sind? Auch aus anderen Gründen meinten die Kritiker, es sei wahrscheinlich, dass die "Synoptiker" (die drei ersten Evangelisten) von geschriebenen Quellen Gebrauch machten. 3. Die Benutzungstheorie. Verschiedene Kritiker versuchten, die Lösung darin zu finden, dass sie davon ausgingen, die Evangelien seien voneinander abhängig (d.h., dass ein oder zwei der Evangelisten von den anderen Evangelien Gebrauch gemacht hätten). J. J. Griesbach (1789) meinte (Augustinus folgend), dass Markus von Matthäus und Lukas Gebrauch gemacht hätte (Reihenfolge: Matthäus, Lukas, Markus), aber Baur und später auch H. G. Jameson (1922) meinten, die Reihenfolge sei: Matthäus, Markus, Lukas. K. Lachmann (1835) hielt es hingegen mit Markus, Matthäus, Lukas, wogegen W. Lockton (1922) meinte, es sollte Lukas, Markus, Matthäus sein. Also alles andere als eine Übereinstimmung. Diese Theorie ist heute längst überholt, aber der Gedanke, dass Markus die Basis für die beiden anderen bilde, blieb hängen, und so bereitete diese Theorie den Weg zur Quellenscheidungstheorie, die wir nun betrachten. 4. Die Quellenscheidungstheorie. In der Mitte des 19. Jahrhunderts gewann die Auffassung über die "Priorität des Markus" immer mehr Einfluss und wurde beinahe zum Dogma. Nun entstand die Theorie, dass die Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen den drei Evangelien am besten erklärt werden könnten, indem man von zwei verschiedenen Quellen ausging: (a) Markus oder eine früher geschriebene Form davon (Ur-Markus) und (b) ein Q-Dokument (Q von Quelle, auch Logoi "Wörter" genannt, weil das Dokument hauptsächlich Worte von Christus enthalten habe), aus dem Matthäus und Lukas auf verschiedene Weise zitiert haben sollten. Diese "Zweiquellentheorie" wurde vor allem von H. J. Holtzmann (1863) ausgearbeitet, nachdem C. H. Weisse 1838 die Logoi-Quelle angeführt hatte und so im Grunde auch die Urevangeliumstheorie in einer neuen Form wieder aufleben liess. Später wurde die Quellenscheidungstheorie von B. H. Streeter (1924) zu der "Vierquellen-Theorie" ausgebaut, wobei er von folgenden Quellen ausging: (a) Markus, das dem Charakter nach römische Evangelium, (b) Q (begrenzt auf das Material, das wir sowohl bei Matthäus als auch bei Lukas, nicht aber bei Markus finden), vermutlich in oder um Antiochien entstanden, (c) M, ein Wörter-Dokument aus Jerusalem, dem Matthäus das Material entnommen haben soll, das nur er nennt, (d) L, die cäsareanische Tradition (wahrscheinlich mündlich überliefert und darum von vielen auch nicht als Quelle anerkannt), aus der Lukas geschöpft haben soll. Trotz des stark spekulativen Charakters dieser Theorie (eine Priorität von Markus kann nicht bewiesen werden, und Q, M und L sind im Grunde nur Luftblasen), ist sie in der angelsächsischen Welt sehr populär geworden, obwohl sie in späterer Zeit teilweise von der Schule der Formkritiker überholt wurde. 5. Die Formkritik (Formgeschichte). Wie wir bereits in Kapitel 7 sahen, wollte die formkritische oder formhistorische Schule vor allem herausfinden, wie die geschriebenen Quellen - von den mündlichen Überlieferungen ausgehend - schriftlich niedergelegt wurden. Dabei suchte sie nach den ursprünglichen literarischen Formen, in denen die Überlieferung über Jesus festgelegt war, und zwar indem sie die Evangelien in solche "Formen" klassifizierte. Die Formkritik sieht das Evangelium also als künstliche Sammlung einzelner Überlieferungs-Einheiten ("Perikopen") an und geht ausserdem davon aus, dass die literarischen "Formen" dieser Einheiten jede für sich in einer ganz bestimmten sozialen Situation entstanden seien. Sie hätten einen eigenen "Sitz im Leben" und mehr den Glauben und die Bedürfnisse der ersten Christen (der "formgebenden" Gemeinschaft) wiedergegeben als den historischen Jesus. Bei dem Ausdruck "historischer Jesus" stossen wir auf ein weiteres zentrales Problem, das wir nun auch erst wieder einigermassen in der Geschichte nachprüfen wollen, bevor wir näher auf diese Theorie eingehen können.
Datum: 16.06.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel