Versöhnt leben

Vergeben – oder darüber hinwegsehen?

Vergebung geschieht nicht von selbst. Der Berater Rolf Lindenmann ermutigt dazu. Auch wenn das Gegenüber die Sache anders sieht.
Rolf Lindenmann

Jesus.ch: Was passiert beim Vergeben?

Rolf Lindenmann: Vergeben heisst, ich entlasse den Andern aus der Schuld mir gegenüber. Er muss mir nichts mehr geben. Es ist vorbei. Ich trage nichts nach, übergebe es gewissermassen Gott. Wenn ich vergebe, ist noch offen, was Gott damit macht. Vergebung ist eigentlich etwas Subjektives: Wenn ich etwas als Schuld empfinde, bei mir oder einem Anderen, ist das noch keine objektive Feststellung. Objektiv Schuld bemessen und vergeben kann allein Gott.

Ist es wichtig, unter Freunden und in der Familie Schuld klar zu benennen?

Schuld hat immer etwas Zerstörerisches. Nicht benannt und vergeben, wird sie zu einer Altlast, die sich in Abstumpfung und Bitterkeiten auswirken kann. Daher ist es sinnvoll, Schuld zu benennen – mindestens dass ich weiss, warum ich jemandem vergebe. Ob der Andere sein Handeln so sieht, ist eine andere Sache. Wenn es möglich ist, die Sache mit ihm anzusprechen, ist das gut für die Beziehung.

Wie kann ich leichter vergeben?

Ich bin nicht besser als die andern; ich brauche genauso Vergebung wie sie. Wenn es mir schwer fällt zu vergeben, dann darum, weil ich mir besser vorkomme. Leichter vergeben können kommt daher, dass ich realisiere, wie sehr ich auf Vergebung von Menschen und primär von Gott angewiesen bin. Das Zweite: Vergeben hat nichts mit meinem Wert als Person zu tun. Wenn ich um Vergebung bitten muss, fällt mir kein Zacken aus der Krone.

Wie kann ich dem vergeben, der mir ganz nahe steht – wenn ich sehe, dass er oder sie sich nicht wirklich ändert?

Vergeben ist nicht an die Bedingung geknüpft, dass der Andere sich ändert. Indem ich vergebe, heisse ich seine – vielleicht andauernden – Fehler nicht gut. Es bedeutet nur, dass ich ihm nichts nachtrage. Wie Gott mit ihm umgeht und ob er sich ändert, ist seine Sache. Ich muss sehen, was mein Beitrag ist, dass ich mich ändere.

Was unterscheidet Vergeben vom Darüber-hinweg-Sehen?

Toleranz ist für mich eher Gleichgültigkeit: Ich nehme den Andern und mich nicht ernst, tue so, als mache es mir nichts, als wäre es nicht so schlimm – dabei stimmt das nicht. Vergeben dagegen hat zu tun mit Weitherzigkeit. Ich nehme ernst, was geschehen ist – und zugleich nehme ich den Andern auch nachher noch ernst. Ich entlasse ihn aus der Schuld.

Rolf Lindenmann (69), Dr. phil., Biologe, ist als Coach und Berater in Grüt im Zürcher Oberland tätig.

Datum: 14.04.2011
Autor: Peter Schmid
Quelle: Jesus.ch

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