Thomas Schlag (links) und Jürg Stolz (Bild: Facebook / unifr.ch)
Das christlicher
Glaube in Europa immer mehr an Boden verliert, hat bei Religionssoziologen fast
den Status eines Naturgesetzes. Nun stellt sich der Zürcher Theologieprofessor
Thomas Schlag dagegen und verweist auf
gläubige «hochmoderne Menschen».
Die Kirchen haben sich schon längst auf permanent abnehmende
Mitgliederzahlen eingestellt. Gegenläufige Trends wie etwa in der
anglikanischen Kirche von England werden wegerklärt. In der Schweiz
dokumentiert regelmässig der Religionssoziologe Jürg Stolz die negative
Entwicklung. Nun hat in einem Streitgespräch der Neuen Zürcher Zeitung der Zürcher
Leiter des Zentrums für Kirchenentwicklung, Thomas Schlag, Argumente für
gegenläufige Trends begründet.
Hochmoderne Menschen glauben
Während Stolz seine These bestätigt sieht, dass der Gottesglaube
vor allem in politisch stabilen Staaten mit hohen menschlichen Werten und guter
Bildung abnimmt, widerspricht Thomas Schlag mit dem Beispiel Südkorea, wo sich
in einem technisch hoch entwickelten Land das Christentum rasant ausbreite.
Doch selbst im deutschsprachigen Raum gebe es eine «Tendenz in Richtung
Freikirchen», wo sich Ingenieure, IT-Leute oder Kommunikationsexperten dem
Glauben zuwenden. Also «hochmoderne Menschen».
Schlag nimmt in der Gesellschaft ein «gewaltiges Interesse
an religiösen Fragestellungen» wahr und sagt daher gegenüber Stolz: «Wir müssen
sehr viel genauer überlegen, wie wir Religion definieren.» Er stellt in Frage,
dass dafür der Blick auf «Gottesdienstbesuch, Gebetspraxis und Transzendenzvorstellungen»
genügt. Er verweist dagegen auf das «hohe Interesse» an theologischer Literatur
und nennt als Beispiele die Bücher von Margot Kässmann und Samuel Koch. Er
fordert die Religionssoziologie auf, nicht nur mit quantitativen Daten zu
arbeiten, sondern das Mikroskop einzusetzen. Dann erhalte man ein Bild, das die «Vielfalt religiöser Dynamiken» zeige.
Der blinde Fleck der Religionssoziologie
Konkret erfährt es Schlag so: «Wenn ich mich irgendwo als
Theologe oute, kann ich mich fasst nicht vor sinnbezogenen und religiösen
Fragen retten, die man mir stellen möchte.» Da gehe es nicht nur um den
Klimawandel, sondern «um das Bedürfnis nach Trost, um Erklärungen für
Schicksalsschläge, um Jenseitsvorstellungen». Und er schliesst daraus: «Es gibt
offensichtlich ein Bedürfnis, sich damit auseinanderzusetzen.» Und an die
Adresse von Jürg Stolz: «Wenn man dies ignoriert, bekommt die
religionssoziologische Theorie einen blinden Fleck.»
Ein Tipp an die Kirche
Der Leiter des Zentrums für Kirchenentwicklung schliesst aus
seinen Beobachtungen: «Die Religion ist bei vielen Menschen nicht verschwunden,
aber verschüttet. Man kann sie revitalisieren.» Und er erwähnt Studien über
Religion bei jungen Leuten: «Bei Jugendlichen braucht es einen Trigger. Und
dann legen sie los mit religiösen Fragen.»
Er gibt der Kirche den Tipp, «solche Impulse zu
geben und Räume zu schaffen, in denen dies möglich ist». Den
Theologiestudierenden, die ins Pfarramt gehen wollen, gebe er mit auf den Weg: «Eure
Auftragsbücher sind voll. Ihr müsst nur schauen, was drin steht.» Die Kirchen
hätten keinen Grund zu klagen, «weil sie eigentlich nach wie vor gefragt
wären».