Kolumne zum Sonntag

«Ich war fremd…»

In vielen Ländern auf der Welt toben Kriege. Über 50 Millionen Menschen sind auf der Flucht, so viele wie seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr. Marc Jost, Generalsekretär der Schweizerischen Evangelischen Allianz, sieht darin auch eine Chance für Christen.
Marc Jost

Vor 100 Jahren, unter dem Eindruck des ersten Weltkrieges, wurde erstmals zu einem Weltflüchtlingstag aufgerufen. Seither wird jährlich all jener über 50Millionen(!) Menschen gedacht, die auf der Flucht sind. Die am stärksten betroffenen Länder sind: Syrien, Kolumbien, die Republik Kongo, Afghanistan, Sudan, Somalia und der Irak. Die meisten fremden Flüchtlinge leben heute im Libanon (mehr als 1,5 Mio. = ein Viertel der Bevölkerung!). Eine Million Menschen stammen allein aus dem Bürgerkriegsland Syrien.

Dramatisch, wie seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr

Die Menschen verlassen ihre Heimat wegen Kriegen, Vertreibung, Verfolgung als (religiöse) Minderheit oder wegen Hungersnöten. «Die Lage ist so dramatisch, wie seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr», sagt der Direktor des Bundesamtes für Migration. Vor gut 60 Jahren ging man von rund 30 Millionen Flüchtlingen weltweit aus. Die vielen Krisenherde heute sind ganz nah wie in der Ukraine und weiter weg wie im Südsudan.

Europa und die Schweiz sind je länger desto stärker herausgefordert. Die Asylgesuche steigen markant an. Bei der Flüchtlingshilfe haben sich 150 Schweizer Haushalte gemeldet, dass sie syrische Flüchtlinge aufnehmen wollen. Das Bundesamt für Migration ist nun dabei, dafür die nötigen rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen.

Was würde Jesus tun?

Diese Bereitschaft der Schweizer Bevölkerung freut mich. Sie erinnert mich an eine andere Zeit, als die Schweiz Flüchtlinge aus Frankreich aufgenommen hatte: Mehrere zehntausend verfolgte Hugenotten kamen im17. Jahrhundert in die Schweiz. Manche konnten in den reformierten Kantonen bleiben und brachten wertvolles Knowhow mit: Die Uhrhandwerker Piguet und Longines in der Westschweiz, die Bankenfamilie Sarasin in Basel und die Textilindustrie kam bis in die Ostschweiz. Noch heute ist der Wohlstand der Schweiz vom Bankensektor und von Luxusprodukten wie Uhren beeinflusst.

Damit will ich nicht sagen, dass unser Motiv sein soll, Flüchtlinge aufzunehmen, weil wir davon profitieren könnten. Nein, die Nächstenliebe und die Solidarität sollen uns dazu anleiten. Und nicht jeder kann eine Familie aus Syrien beherbergen, aber als Christen sind wir aufgefordert zu beten und zu fragen: Was würde Jesus tun? Und ich bin überzeugt, dass eine solche Haltung nicht nur für die Hilfesuchenden, sondern auch für uns letztlich ein Segen sein wird.

Zum Autor

Marc Jost ist Generalsekretär der Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA). Der Thuner ist seit 2006 im Grossen Rat des Kantons Bern.

Datum: 07.09.2014
Autor: Marc Jost
Quelle: Sonntagsblatt des «Berner Oberländer»

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