Keiner von uns hat Jesus live erlebt. Deshalb malen
wir ein Bild von ihm, wie wir ihn uns vorstellen. Natürlich aufgrund der Bibel,
aber auch aufgrund von Vorstellungen, wie er «auf jeden Fall» war – zum
Beispiel nett. Aber stimmen solche Annahmen?
Jesus hat einfach ein gutes Image. Als «Liebe in
Person» wirkt er für manche zwar etwas zu weich, aber seine freundliche und
gewinnende Art kommt auch Jahrhunderte später noch genauso positiv rüber wie
damals. Das ist völlig berechtigt. Aber das ist nur eine Seite dieses Jesus von
Nazareth. Denn er war definitiv nicht nett im Sinne von weichgespült,
angepasst, unaufgeregt oder nichtssagend. Keiner von denen, die freundlich
lächelnd in der Ecke sitzen und an die sich später niemand erinnert. Jesus
konnte sich aufregen – und er tat es. Und Jesus konnte für Aufregung sorgen –
und das tat er ebenfalls. Zum Beispiel mit einigen sehr pointierten Äusserungen
in Richtung der damaligen religiösen Verantwortlichen.
Eine anklagende Rede
Nun ist es das eine, wenn man einen Nebensatz
fallenlässt, in dem sanft Kritik aufblitzt, doch einmal wird Jesus sehr
ausführlich und direkt: Im Matthäusevangelium spricht Jesus die damaligen
geistlichen Leiter des Volkes an, die Pharisäer, und er kritisiert sie
detailliert für ihre Heuchelei. «Alles nun, was sie euch sagen, dass ihr halten
sollt, das haltet und tut; aber nach ihren Werken tut nicht, denn sie sagen es
wohl, tun es aber nicht» (Matthäus Kapitel 23, Vers 2).
Jesus kritisiert ihr Machtgehabe («Sie lieben den obersten Platz bei den
Mahlzeiten und die ersten Sitze in den Synagogen» – Vers 6) und besonders ihr Ausgrenzen
derer, die angeblich draussen sind, weil «ihr das Reich der Himmel vor den
Menschen zuschliesst!» (Vers 13). Das Ganze geschieht nicht in einer
sachlich-distanzierten Art und Weise. Sehr vehement spricht Jesus diese
Ungerechtigkeit und ihre Vertreter an: «Ihr Schlangen! Ihr Otterngezücht! Wie
wollt ihr dem Gericht der Hölle entgehen?» (Matthäus Kapitel 23, Vers 33).
Nett ist anders.
Deutliche Worte beim Essen
Zu einem anderen Zeitpunkt wurde Jesus von einem
Pharisäer zum Essen eingeladen. Dieser wunderte sich, dass «er sich vor dem Mittagsmahl
nicht gewaschen hatte». Das bedeutet nicht, dass Jesus sich ohne gewaschene
Hände an den Tisch gesetzt hätte. Es heisst vielmehr, dass er das extrem
aufwendige kultische Reinigungsverfahren nicht angewandt hatte – sauber waren
seine Hände schon. In dieser Situation hätte er sich natürlich zurückhalten
können, um seinen Gastgeber nicht blosszustellen, doch wieder wurde Jesus sehr
deutlich: «Nun, ihr Pharisäer, ihr reinigt das Äussere des Bechers und der
Schüssel, euer Inneres aber ist voll Raub und Bosheit» (Lukas Kapitel 11, Vers
39).
Damals taten sich die Leute schwer damit, dass Jesus
gerade die Frommen so hart anging («Meister, mit diesen Worten schmähst du auch
uns!» – Vers 45), aber ohne grosse Vorwürfe bei stadtbekannten Sündern wie
Zachäus am Tisch sass (Lukas Kapitel 19).
Offensichtlich war aber gerade dies der entscheidende Punkt: Jesus hatte nie
Probleme mit Sünderinnen und Sündern, wohl aber mit Selbstgerechten, die
scheinbar etwas Besseres waren.
Warum diese Härte?
Das Neue Testament kennt noch etliche ähnliche
Begebenheiten wie zum Beispiel die Vertreibung der Verkäufer aus dem Vorhof des
Tempels. «Und er ging in den Tempel hinein und fing an, die Verkäufer und
Käufer darin hinauszutreiben, und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben: Mein
Haus ist ein Bethaus. Ihr aber habt eine Räuberhöhle daraus gemacht!» (Lukas
Kapitel 19, Vers 45-46).
All diese Äusserungen und Taten von Jesus
unterstreichen, dass er nicht einfach nur nett und freundlich war. Er nannte
Unrecht beim Namen – und zwar hauptsächlich fromm verkleidetes Unrecht. Da war
er alles andere als diplomatisch und wurde sehr direkt. Auf heute bezogen ist
dies sicher kein Freifahrtschein, um andere Christen anzupöbeln, aber es zeigt,
dass diejenigen, die Christus nachfolgen, heute genauso klar dazu Stellung
beziehen sollen, wenn im Namen der Religion und des Glaubens Ungerechtigkeiten
geschehen. Dann sind Christen gefordert. Denn Christus selbst ist zwar die
Liebe, aber er ist nicht «lieb».