Bibel als Stolperstein des Bibeljahres?

Bibel

Kann die Bibel als tägliches Brot genossen oder muss sie als Heilmittel dosiert zur Anwendung kommen? Zum Anfang des Jahres der Bibel wurde die Frage aufgeworfen, ob die Bibelleserin oder der Bibelleser das Buch allein, auch ohne wissenschaftlich-theologische Anleitung, lesen und verstehen kann.

Synodalrat Ruedi Heinzer brauchte in seiner Eröffnungsansprache zum Jahr der Bibel in Bern das Bild des Heilmittels. Die Bibel transportiere zwar das Brot des Lebens, aber sie sei keine Bäckerei, in der man alles essen könne, sagte der Vertreter des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes. "Man muss die Bibel mit einer Apotheke vergleichen." Wer wolle denn frisch fröhlich schlucken, was in der Apotheke herumliege? "Das Medikament braucht einen aktuellen Beipackzettel", so die Folgerung von Heinzer. Genauso solle man die Bibel nicht ohne professionelle Anleitung lesen. Eine theologische Fachbegleitung gehöre zur Bibellektüre.

Ein Wort wie Dynamit

"Nein, die Bibel soll und darf auch ohne Anleitung gelesen werden", hält dem der Theologe Beat Weber, Präsident der Arbeitsgemeinschaft für biblisch erneuerte Theologie (AfbeT)", entgegen. Mit den Reformatoren sei festzuhalten, dass die Bibel in ihrer Ganzheit Gottes Wort sei. Sie sei auch klar und verständlich und führe "zuverlässig zu Gott, der uns in Jesus Christus das Heil schenkt". Nach reformatorischem Grundsatz lege sich die Bibel selber aus, meint Weber. Wichtig sei allerdings, dass sie im Zusammenhang gelesen werde.Und der Leiter des Bibellesebundes, Andreas Zimmermann bestätigt: Die Bibel selber sage auch, dass sie Dynamit sei. "Ich denke, dass viele Menschen ohne Anleitung die Bibel lesen und dieses Lesen löst auch bei vielen Menschen etwas aus", so Zimmermann.

Nicht einfach zu verstehen

Ein zu altes Buch sei die Bibel, um sie ohne fachliche Hilfe durchzulesen, meint Urs Joerg, Generalsekretär der Schweizerischen Bibelgesellschaft: "Wir stellen in unseren täglichen Kontakten mit Bibellesern fest, dass die Bibel kein einfach zu verstehendes Buch ist." Die Bibel als ein Buch aus einer früheren Zeit brauche "Übersetzungshilfen", also ausführliche Sacherklärungen. Eine Bibellektüre nur "im stillen Kämmerlein" könne dazu führen, dass schwierige Fragen "vielleicht bohrend und belastend" werden, meint Joerg.

Verschiedene Zugänge

In seinen Ausführungen hat Ruedi Reich, Kirchenratspräsident der Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Zürich, etwas relativiert, was Joerg über die schwere Verständlichkeit der Bibel sagte. Neben dem wissenschaftlichen und historischen Zugang zur Bibel, den es selbstverständlich brauche, gebe es auch direktere, unmittelbare Zugänge. Etwa wenn jemand am frühen Morgen oder am Abend in seinem Kämmerlein das Evangelium lese oder sich vom 23. Psalm inspirieren lasse. Auch für Beat Weber ist diese tägliche Besinnung über das Bibelwort das Brot des Christen. Im Hören auf das Wort in Stille und Gebet werden die ersten Impulse für die tägliche Lebensgestaltung gegeben, glaubt Weber. "Die Bibel will uns führen und leiten und ruft zu Hingabe und Gehorsam", so Weber. In diesem Sinne rät der Theologe geradezu, die Bibel "zunächst alleine zu lesen".

Besteht für den Bibelleser, der ohne professionelle Hilfe die Bibel liest, die Gefahr des Fanatismus? "Jeder kann in Irrtümer verfallen, mit oder ohne wissenschaftliche Hilfe", sagt der Chef der Zürcher Landeskirche. Allerdings gehöre das Bibellesen und die Bibelinterpretation immer auch in die Gemeinde. Das ergebe sich beim ernsthaften Bibelleser ja auch schon fast von alleine. "Wer die Bibel liest, sucht auch Information und vor allem sucht er das Gespräch", sagt Reich. Nicht die Gefahr von Irrtümern steht dagegen für Beat Weber im Vordergrund, sondern vielmehr die Gefahr der Relativierung der Bibel. "Entscheidend ist, was für mich die Bibel ist. Ist sie ein interessantes und lehrreiches Buch oder lese ich in der Erwartung – trotz mancher schwieriger Stellen –, dass Gottes Wort und Wille sich darin zeigt?", fragt Weber.

Ein "geselliges Buch"

Zumindest darüber herrscht bei den Theologen verschiedener Richtungen Einigkeit: Das Bibellesen gehört notwendigerweise auch in die christliche Gemeinde. Es sei wichtig, dass man die Bibel – nach den Worten des Schweizer Dichters Kurt Marti ein "geselliges Buch" – mit anderen zusammen lese, sagt Urs Joerg. "Die christliche Gemeinde ist wichtig für das Verstehen der Bibel", meint auch Beat Weber. Predigt und Gespräch im Bibelkreis zeigten ebenso Leitlinien für die Lebensgestaltung wie das persönliche Bibellesen. Oft sei das Hören auf die theologische Auslegung in der Predigt und die Diskussion über das Bibelwort in der Gruppe auch ein Korrektiv für das eigene Lesen und Verstehen der Bibel.

INTERVIEW

Thomas Hanimann

„Allein die Bibel zu lesen, kann gefährlich sein“

Wer die Bibel ohne geschichtlichen Hintergrund lese, fahre bedenklich nahe am Abgrund des Fanatismus, sagt Ruedi Heinzer von der Berner Kirche im Interview. Der Pfarrer und Synodalrat begründet hier seine Aussagen, die er in einer Rede bei der offiziellen Eröffnung zum "Jahr der Bibel" gemacht hat. Thomas Hanimann stellte ihm die Fragen.

Thomas Hanimann: Wie soll im Jahr der Bibel die Bibel von einem Laien denn gelesen werden? Nur mit sieben wissenschaftlichen Kommentaren und am besten in einem Bibelkurs der Landeskirche?
Ruedi Heinzer: Sarkasmus hilft niemandem. Tatsache ist, dass Frustration und Missverständnisse programmiert sind, wenn jemand ohne theologische Kenntnisse einfach zu lesen beginnt. Wozu schickt man denn Prediger in eine harte, vierjährige, biblische Ausbildung, wenn jeder die Bibel ohne weiteres vom Ladentisch weg verstehen könnte? Das Jahr der Bibel ist wichtig, wenn es nicht nur sagt, dass man die Bibel lesen soll, sondern auch wie.

Kommt der Laie um die Wissenschaft nicht herum oder gäbe es nicht noch einfachere Zugänge, die auch für einen Laien ohne theologische Vorbildung nachvollziehbar sind?
Ruedi Heinzer: Texte, die doppelt so alt sind, wie die älteste Burgruine der Schweiz, brauchen selbstverständlich wissenschaftliche Verstehenshilfen. Um die herum kommt niemand. Es gibt sie längst, für Laien aufgearbeitet, manchmal allerdings wenig attraktiv. Aber man muss der Gemeinde sagen, dass sie die Kommentare in den Bibelausgaben ernst nehmen muss und dass es genug Theologinnen und Bibelgelehrte im Land hat, die eine Telefonnummer haben. Bibellesen ist eigentlich eher Sache der Gemeinde, als von Einzelpersonen. Und in der Gemeinde gab es schon seit je Sachverständige. Lehren ist eine Geistesgabe, und noch nie galt in der christlichen Kirche, um die Bibel zu verstehen, brauche es die Lehrenden nicht!

Verfällt der Laie, der ohne wissenschaftliche Hilfe die Bibel liest, in Glaubensirrtümer? Besteht die Gefahr von Fanatismus?
Ruedi Heinzer: Richtig. Denken Sie an die fünf Dämonenaustreibungen, die von Jesus berichtet sind. Sie wissen ja, wie noch heute psychologiefeindliche Möchte-Gern-Seelsorge daraus abgeleitet wird! Bibelwissenschaft könnte den Lesern nur schon sagen, dass es so etwas zwar bei Matthäus, Markus und Lukas gibt, dass aber im ganzen Alten Testament keine Geisteraustreibung vorkommt; dass das Johannesevangelium nichts Derartiges überliefert und dass Paulus den Exorzismus nicht nennt, sondern die "Unterscheidung" der Geister, wenn er Geistesgaben aufzählt. Nur schon der Gebrauch einer Evangeliensynopse könnte blindem Fundamentalismus wehren. Auf der Bibel ist unsere Kultur aufgebaut. Die Bibel transportiert das Kostbarste, das Evangelium von Jesus Christus. Nur dank der Bibel wissen wir, dass Gott die Menschen bedingungslos liebt. Aber wenn ich Bibeltexte unterschiedslos und ohne geschichtlichen Hintergrund lesen wollte wie einen modernen Brief Gottes an mich persönlich, so fahre ich bedenklich nahe am Abgrund des Fanatismus.

Wollen die Reformierten damit ihren Grundsatz doch endlich aufgeben, dass die Bibel die letzte, höchste und alleinige Richtschnur im Bezug auf Glaubens- und Lebensfragen sein soll?
Ruedi Heinzer: Ihre Frage scheint mir tendenziös. Sie fahren ja auch Auto und begreifen ohne fachliche Hilfe wohl nicht, wie der Vergaser funktioniert. Wenn ich sage, fachlich-theologische Arbeit sei notwendig zum Verstehen der Bibel, ändert das kein Jota an der Tatsache, dass die reformierten Kirchen fest auf dem Fundament der Bibel stehen. In Bern sagten wir es kürzlich so: "Die Orientierung an der Bibel ist verbindlich. Sie erfolgt im Dialog." (Leitbild 1998).

Was raten Sie den Christen im Jahr der Bibel im Bezug aufs Bibellesen?

Ruedi Heinzer: Lesen und diskutieren Sie Bibelabschnitte mit andern zusammen, die das gleiche Interesse haben und bestehen Sie darauf, theologische Literatur oder noch besser sachverständige Personen bei zu ziehen. Auf die Dauer gibt es keine spannenderen Inhalte für Kurse, Diskussionen und Veranstaltungen als Bibeltexte, mit denen man sich in ehrfürchtig-kritischer Haltung auseinander setzt.

Warum verbreitet man die Bibel so intensiv, wenn sie doch nicht so ganz fürs Volk ist?

Ruedi Heinzer: Wenn ich sage, die Bibel sei mit theologischer Fachbegleitung zu lesen, so sage ich eben nicht, sie sei nicht "fürs Volk". Rheuma-Mittel sind "ganz fürs Volk", und man macht zünftig Werbung dafür, wie dieses Jahr für die Bibel. Aber das heisst nicht, dass man betet und dann diese Mittel einfach nach Lust und Laune schluckt. Man muss schon den Beipackzettel der Fachleute ernst nehmen. Erst dann ist ein Medikament echt "fürs Volk".

Soll das heute anders sein?

Und was sagt die Bibel zu diesem Thema?: „Sie hörten mit grosser Aufmerksamkeit zu und lasen in den heiligen Schriften nach, ob das was Paulus sagte, auch zutraf.“ Apostelgeschichte 17, Vers 11. Hier ist es genau umgekehrt: Laien prüfen im Alten Testament (Thora), ob das was die Thelogen erzählen, auch stimmt. Die Bibel fordert einem damit geradezu auf, selbständig darin zu lesen und Schlüsse daraus zu ziehen. Das kann doch heute nicht anders sein.

Quelle: idea schweiz/Livenet

Datum: 07.02.2003

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