Gemeinde-Nomaden - ein Anlass zur Selbstkritik?

Nomaden

Gedanken von Peter Aschoff, Leiter ALPHA Deutschland über Christen, die immer wieder ihre Gemeinde wechseln.

Jahr um Jahr zieht sie dahin: Die Karawane der geistlich ewig Heimatlosen. Gelegentlich machen einzelne Vertreter mit ihrer Sippe Rast in der Oase einer Ortsgemeinde. Sie füllen ihre erschöpften Vorräte wieder auf, tauschen Neuigkeiten aus, bestaunen mit etwas Sehnsucht die festen Häuser, striegeln die Kamele und flicken ihre Zelte. Doch beim ersten Konflikt mit den Oasenbewohnern packen sie wieder ihre Sachen und ziehen weiter. Mal leidend, mal überheblich, oft frustriert.

Um es gleich klar zu sagen: Ich rede hier nicht von Menschen, in deren geografischen Nähe es keine lebendige Gemeinde gibt, die ihnen ein gewisses Maß an geistlichem Wachstum ermöglicht. Nicht von denen, die klar erkennen, dass ihre eigene Berufung und die Vision bzw. der konkrete Auftrag einer bestimmten anderen Gemeinde zusammenpassen und Gott sie dorthin berufen hat. Es geht mir auch nicht um die, die eine Gemeinde nach einem aufreibenden Konflikt schließlich verlassen und Heilung für ihre Wunden suchen, weil es am Ende keine bessere Lösung gab als eine Trennung. Und schon gar nicht von denen, die tatsächlich geistlichen Missbrauch erlebt haben, also von anderen benutzt wurden, um deren Geltungs- und Machtbedürfnis zu bestätigen. In einer solchen Situation sollten Menschen alle Türen offen stehen und das letzte, was sie hören müssen, sind Vorwürfe.

Mir geht es vielmehr um die, die oft mehr als eine passable Gemeinde in Reichweite hatten, es aber vorzogen, einen Streit nicht konstruktiv auszutragen oder deren Ansprüche an andere so unrealistisch waren, dass keine Gemeinde gut genug war. Oder die es immer als störend empfanden, auf andere eingehen zu müssen. Was auch immer der mehr oder weniger gerechte Anlass war, eine Gemeinde zu verlassen und sich nach einer anderen umzusehen, spielt schon fast keine Rolle mehr, wenn der Karawanen-Effekt zu wirken beginnt. Die Verweildauer von einer zur nächsten Gemeinde wird kürzer, ähnlich wie bei die Ehen oder „Beziehungen“ bestimmter Klatschspalten-Promis. Irgendwann sind sie dann gar nicht mehr integrierbar, und dieser Punkt ist erschreckend schnell erreicht.

Leiter in den verschiedenen Gemeinden winken bei diesem Thema schon entnervt ab oder flüchten in die Ironie, etwa wenn sie den Verantwortlichen der jeweils angesagten Trend-Gemeinde sagen: „Ach, die XYs sind jetzt bei Euch? Na, dann viel Spaß ...“ Zu oft haben sie erlebt, wie Leute mit großem Enthusiasmus und viel geistlicher Erfahrung (jedenfalls täuschte das fromme Vokabular das vor) in die Gemeinde kamen. Meistens erzählten sie lange, traurige Geschichten über ihre letzte Gemeinde. In der neuen Gemeinde hat man dazu verständnisvoll geseufzt, als man erfuhr, was es dort für Probleme gab. Vermutet hatte man das schon immer, deswegen fragt auch keiner dort einmal nach. Wir wollen ja keinen Ärger.

In den nächsten Monaten wiederholt sich dann das Spiel. An den Unvollkommenheiten des Pastors oder Leiters, an Defiziten im Angebot oder an ungewohnten Lehrakzenten entzündet sich ein Konflikt, der je nach Persönlichkeit offensiver ausgetragen oder durch stillen Rückzug „gelöst“ wird. Viele der Verantwortlichen haben festgestellt, dass es wesentlich aufwändiger ist, diese geistlichen Nomaden zur Sesshaftigkeit zu bewegen als Menschen, die gerade zum Glauben gekommen sind, in die Gemeinde zu integrieren. Das Problem ist nur, dass die einen von alleine kommen, während es von Seiten der Gemeinde meist einigen Einsatz erfordert, Menschen für Jesus zu gewinnen.

Kürzlich erzählte mir eine Dame stolz, sie sei nicht nur in einer, sondern sogar in mehreren Gemeinden. Sie sagte „Gemeinde“, meinte aber „Gottesdienst“ im Sinne von Veranstaltung. Wenn es schön war, gibt es ordentlich was in die Kollekte. Ist doch ein fairer Deal? Schließlich leben wir ja in Zeiten wachsender Einheit, wo Grenzen zwischen den Kirchen fallen. Was könnte es Besseres geben als solche aktiven Botschafter der Überkonfessionalität?

Nun wäre es zu billig, für dieses sich hartnäckig haltende Phänomen einfach nur den Zeitgeist verantwortlich zu machen. Natürlich herrscht in unserer Gesellschaft ein allgemeiner Trend zur Unverbindlichkeit, die keine Verpflichtungen mehr eingeht und oberflächliche Beziehungen nur so lange pflegt, wie die eigenen Bedürfnisse es erfordern. Natürlich geht der Trend zu einer immer stärkeren Aufsplitterung der Lebensbereiche und zum selbstbezogenen Konsum. Natürlich gilt immer mehr der Grundsatz, jeder müsse sich seinen ganz persönlichen Wahrheitscocktail mixen, und natürlich hält man alles für gut, was sich - jedenfalls für den Moment - so anfühlt. Vielleicht haben sich all diese Haltungen in den Gemeinden schon weit verbreitet und wir ernten deshalb die oben beschriebenen Früchte? - Ich glaube aber, dass sich darüber hinaus noch einige andere Fragen stellen:

Perfektionismus: Irre Ansprüche

Viele Enttäuschungen haben mit überzogenen Erwartungen zu tun. Ich finde es erstaunlich, dass Christen immer wieder aus allen Wolken fallen, wenn sie mit anderen Christen (oft wegen Nichtigkeiten) in Streit geraten, weil diese sich plötzlich einmal wie richtige Sünder verhalten. Ich muss doch den anderen dasselbe Maß an Barmherzigkeit zugestehen, auf das auch ich angewiesen bin. Haben etwa die verklärten Ideale, die unsere Predigten, Bücher, Kongresse und die stets um Harmonie bemühte Gemeindekultur beschworen haben, Menschen nicht genug darauf vorbereitet?

Ein Freund sagte kürzlich und ohne alle Bitterkeit: „Leiten bedeutet genau das: immer wieder verletzt zu werden.“ Wenn Jesus am Kreuz von allen verlassen starb und ohne ein Wort des Vorwurfs von den Toten zurückkam - warum gelingt es uns dann nicht, unsere kleinen Enttäuschungen souveräner wegzustecken? Könnte es vielleicht sein, dass uns der Tod des eigenen Ego noch bevorsteht? Warum lassen sich Christen eigentlich über Jahrzehnte gegen Geld von ihren Chefs fast alles bieten, kehren aber den Mitchristen - deren Fehler ich keinesfalls entschuldigen möchte! - wegen Kleinigkeiten den Rücken? Wann hat es in Ihrer Gemeinde zuletzt eine Predigt darüber gegeben, wie man einen Streit unter Christen vernünftig austrägt? Für Jesus war es Alltag, Konflikte auszuhalten und beizulegen. Und für uns?

Individualismus: Christsein à la carte?

Gemeinde muss selbstverständlich bedürfnisorientiert funktionieren: Gottes Bedürfnisse zuerst, dann (das ist oft dasselbe, vgl. 1 Tim 2,3) die der Menschen, zu denen wir gesandt sind, schließlich unsere eigenen, die auch nicht unter den Tisch fallen dürfen. Wo sich diese Reihenfolge aber unter der Hand umgekehrt hat, da entsteht - wie bei verwöhnten Kindern - eine permanente Unzufriedenheit, weil die eigenen Bedürfnisse und Erwartungen nie schnell oder gut genug bedient werden. Mancher klagt, dass er geistlich nicht genügend Nahrung bekommt, und meint damit vielleicht, dass er nicht genug gestreichelt wird. Einige Leiter haben dienende Leiterschaft mit Helfer-Syndrom verwechselt und wagen es nicht mehr, Menschen im persönlichen Gespräch mit den Zumutungen des Evangeliums zu konfrontieren. Egal, was die theologischen Werte oder Leitlinien sagen - in der Praxis dreht sich die Gemeinde dann um das Wohlgefühl der Insider.

Subjektivismus: Der Herr und ich

Nachdem es unter Christen verpönt ist, eigenwillig zu sein, bleibt immer noch die Möglichkeit, eigene Wege als „Führung Gottes“ zu tarnen. Natürlich gibt es eine Menge hilfreicher Korrektive. Aber in einer jungen Gemeinde, die am Ende sogar noch auf einen prophetischen Impuls hin (und ungeachtet aller Unkenrufe der üblichen Bedenkenträger) gegründet wurde, ist dies schon schwerer zu vermitteln, weil dort das Ideal des geistgeleiteten Individuums einen so hohen Wert hat. Sonderoffenbarungen haben es leichter - vor allem dann, wenn die Gemeindeglieder außer den fett gedruckten Spruchkartenversen von der Bibel nicht mehr viel wissen. Sie lesen lieber leicht verdauliche Erbauungsbücher, die das religiöse Empfinden kurzfristig heben. Und weil alles Neue unter Charismatikern prinzipiell interessant ist (während andere Frömmigkeitsrichtungen es ebenso prinzipiell verdächtig finden), verfallen liebe Geschwister immer wieder auf die bewährte Bileam-Strategie: Sie ersuchen Gott trotz klarer Aussagen um eine „neue Offenbarung“ und machen sich dann auf die Reise. Leider haben sie keinen sprechenden Esel, der die Katastrophe dann noch abwenden könnte.

Wie gesagt, ob und wie sich „Gemeindehopper“ resozialisieren lassen, ist eine schwere Frage. Wenigstens aber kann uns die Begegnung mit den Nomaden einen Anstoß geben, unsere gelebten Werte und die Schwerpunkte von Lehre und Gemeindepraxis einmal zu überprüfen und zu korrigieren. Dann haben sie uns tatsächlich einen Dienst getan.

Dr. Peter Aschoff ist Theologe; er leitet ALPHA Deutschland und die Elia-Gemeinde in Erlangen.

Autor: Peter Aschoff

Datum: 20.03.2005
Quelle: come

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