Sucht und Therapie

«Für Gott ist jeder Mensch gleich wichtig»

Der Film «Platzspitzbaby» zeigt schonungslos, wie Drogenkonsum Leben zerstört. Die offene Szene von damals ist verschwunden. Doch Suchtmittel stürzen Gefährdete nach wie vor in den Ruin. Michael Müller, Leiter der Stiftung Ancora-Meilestei, unterstützt täglich Menschen, die von anderen bereits aufgegeben wurden.
Michael Müller (Bild: zVg)
Der Kinofilm Platzspitzbaby

Schon an die 300'000 Personen haben den Film «Platzspitzbaby» gesehen. Der Film zeigt die offene Drogenszene in Zürich und das Elend und die Verwahrlosung der Drogenabhängigen damals. Der 26. Juni war der Tag gegen Drogenmissbrauch und unerlaubten Suchtstoffverkehr. Wie ist die Situation heute?

Michael Müller ist Geschäftsführer der Stiftung Ancora-Meilestei, die unter anderem ein Rehazentrum im Zürcher Oberland betreibt. Er weiss, welche Drogen heute konsumiert werden und wie sich die Suchttherapie in den letzten 25 Jahren verändert hat. Der 41-Jährige war bis vor kurzem erfolgreicher Unternehmer in der Reinraumbranche und arbeitete nebenbei als Pastor.

Von Überwachungssystemen für sterile Lösungen zu Menschen mit Suchtproblemen und Beeinträchtigungen. Wie kam es zu diesem Richtungswechsel?
Michael Müller
: Trotz dem Erfolg meiner Firma begann es mich zunehmend zu stören, dass im Geschäftsleben nur Umsatz und Gewinn zählen. Wie es den Menschen dahinter geht, ist oftmals sekundär. Ich überlegte, was ich in meinem weiteren Berufsleben noch machen möchte, und verkaufte die Firma. Meine erste Bewerbung nach 20 Jahren ging dann an Ancora-Meilestei.

Sie waren sieben Jahre Pastor. Predigen Sie jetzt zu Ihren Klienten?
Wir haben einen sozialtherapeutischen Auftrag in der Rehabilitation und nicht in Mission oder Evangelisation. Unsere Aufgabe ist, die Teilnehmer zu stabilisieren und auf dem Weg zu einem besseren Leben zu unterstützen. Dabei dürfen wir in Bezug auf den Glauben nicht übergriffig oder manipulativ werden, da haben die kantonalen Ämter den Finger drauf. Als Christen ordnen wir uns diesen Vorgaben unter; ohne die kantonalen Subventionen könnten wir unsere Arbeit nicht machen. Wir weisen unsere Mitarbeiter an, ihren Glauben in erster Linie durch ihre Lebensführung zum Ausdruck zu bringen. Es ist mir aber auch persönlich sehr wichtig, dass wir mit den uns anvertrauten Personen auf Augenhöhe arbeiten und ihnen nichts aufdrücken.

Können Sie Ihren Glauben in Ihre Arbeit einbringen?
Das Christsein ist eine Ressource für meinen Alltag. Ich glaube, dass für Gott jeder Mensch gleich wichtig ist und dass jeder es wert ist, dass wir uns für ihn einsetzen. Als Christen können wir dort einen Extraschritt gehen, wo andere jemanden aufgeben. Das tun wir, weil wir an sie glauben und wissen, dass Gott ihnen helfen kann. Die Menschen, die zu uns kommen, wissen, dass die meisten Mitarbeiter Christen sind. Wir sind offen und ehrlich, wenn uns jemand nach unserem Glauben fragt, und unterstützen es, wenn jemand am Sonntag zur Kirche gehen will. Aber auch hier gilt das Selbstentscheidungsrecht.

Wer macht bei Ihnen eine Therapie?
Wir haben eine Rehabilitationsabteilung für suchtbelastete Klienten, wo die Teilnehmenden begleitet und unterstützt werden. In den Wohnbereichen haben wir keinen grundsätzlichen therapeutischen Auftrag und da teilt es sich auf: Die meisten Bewohner haben psychische Probleme, ein Teil hat eine Abhängigkeitsvergangenheit und ein grosser Teil hat eine Dualdiagnose. Einige Bewohner haben eine kognitive oder sozial bedingte Beeinträchtigung. Bei uns finden sie einen kurz- oder langfristigen Wohnplatz, werden ausgebildet oder können im geschützten Rahmen arbeiten.

2016 haben Ancora und Meilestei fusioniert. Zwei gestandene christliche Institutionen, deren Wurzeln bis in die 1970er- bzw. 1980er-Jahre zurückgehen. War das eine gute Entscheidung?
Der Zusammenschluss selber war nicht einfach. Er war aber befruchtend für beide Institutionen. Wir brauchen heute ein breites Angebot. Die Fusion stellte uns allerdings vor finanzielle Herausforderungen: Die neue IT kostete viel und weitere fusionsbedingte Kosten entstanden. Der bisherige Geschäftsführer Hans-Peter Lächler arbeitet sicher noch bis Ende 2020 im Betrieb mit und führt mich und die neue Leiterin Finanzen weiter ein. Wir haben schwierige Jahre hinter uns und müssen vorsichtig unterwegs sein. Aber wir haben gute Aussichten, eine neue Führung und frische Kraft. Nach einem Personalabbau in den letzten Jahren werden wir dieses Jahr wieder sechs bis acht Vollzeitstellen generieren.

Wohin wollen Sie Ancora-Meilestei führen?
Mein Ziel ist eine grössere Selbständigkeit des Betriebs und weniger Abhängigkeit vom Staat. Dazu ist ein Wachstum im wirtschaftlichen Bereich nötig. Wir möchten auch mehr freies Kapital bilden. Das brauchen wir zum Beispiel, um Menschen aufnehmen zu können, deren Aufenthalt vom Sozialwesen nicht finanziert wird. Oder für Extras wie neue Maschinen oder Ferien für die uns anvertrauten Menschen. Der Wohnbereich läuft sehr gut. Die berufliche Integration in Wetzikon hat im letzten Jahr erfreulicherweise wieder schwarze Zahlen geschrieben. Das möchten wir stabilisieren und ausbauen. In der Reha gab es anfangs Jahr ebenfalls einen Leiterwechsel. Eines der Ziele im Bereich der Sozialtherapie ist unter anderem, abzuklären, wie sich die Suchtlandschaft in den nächsten Jahren weiter verändern wird.

Schauen wir zuerst zurück. Der Kinofilm «Platzspitzbaby» zeigt das Drogenelend zur Zeit von Platzspitz und Letten. Gibt es solche Situationen 25 Jahre später immer noch?
Die Drogenparks von damals gibt es nicht mehr, aber die Zustände in den Wohnungen können noch immer ähnlich sein. Bei Alkoholabhängigen zum Beispiel sieht es genauso aus. Letztlich ist die Art des konsumierten Stoffs fast Nebensache, denn das Verhalten der Süchtigen ist überall vergleichbar: In klaren Momenten wollen die meisten aufhören und sind bereit, alles zu unternehmen, um frei zu werden. Doch dann kommt der Suchtdruck und sie sehen nur noch die «Droge». Dazu gibt es heftige Szenen im Film. Als die Mutter der Tochter die Halskette abnimmt oder ihren Hund für Drogen verkauft – das bricht einem das Herz! Immer wieder kommt es bei Abhängigkeitskranken zu Beziehungsabbrüchen und Enttäuschungen. Nicht nur in ihrem Umfeld, sondern auch bei ihnen selber. Sie haben Schamgefühle und erleben sich als Versager, weil sie Rückfälle haben und abgelehnt werden. Hier wollen wir anders sein.

Inwiefern?
Der Beziehungsbereich wird bei uns sehr hochgehalten. Der Wert der Menschen hängt nicht von ihrem Handeln ab. Deshalb setzen wir uns für sie ein und nicht, weil es unser Auftrag ist oder wir Geld dafür erhalten, sondern weil die Menschen es wert sind, dass wir ihnen helfen. Trotz Rückfällen bleibt der Respekt und wir gehen den Weg mit ihnen weiter. Es ist schön, wenn man sieht, wie sie Schritte machen und stabiler werden. Bei einigen geht das schnell und sie kommen schon bald aus dem Loch heraus. Andere bleiben einige Jahre, selten auch zehn bis fünfzehn Jahre.

Wieso geraten Menschen in eine Suchtabhängigkeit?
Ich denke, bei den meisten fängt es mit einem seelischen Schmerz an. Im Film hat die Freundin von Mia selber Gewalt erlebt und fängt später an zu koksen. Man lernt jemanden kennen, es ist cool und der seelische Schmerz ist für einen Moment abgedeckt. Es gibt auch solche, die experimentieren, die in Coolness mit Kollegen ein Bier trinken oder einen Joint rauchen. Heute «glüht man vor», bevor man in den Ausgang geht. Viele Jugendliche hören später mit dem Konsum auf und machen ihren Weg respektive pflegen einen Konsum, der gesellschaftlich keinen Schaden hinterlässt. Aber einige bleiben hängen. Es kann schnell gehen: eine schwierige Lebenssituation, man verliert den Job, ein Haustier oder sogar einen geliebten Menschen – und fällt dann durch alle Maschen.

Sind Sie eher für Abstinenz oder eher für eine kontrollierte Abgabe von Drogen?
Wir arbeiten abstinenzorientiert und sind in der Therapie nicht für einen kontrollierten Konsum. Normalerweise gehen die Menschen für einige Wochen zur Entgiftung in eine Klinik, bevor sie zu uns kommen. Grundsätzlich finde ich es gut, dass man die Süchtigen von der Strasse holt und ihnen ein Dach über dem Kopf, Essen und Medizin gibt. Manche erhalten dann aber täglich Methadon. Dadurch sind sie zwar versorgt, aber es geht auch um weitere Lebensqualität und die ist da nicht zu finden. Ich kann nur empfehlen, den Sune-Egge, das Suchtspital der Sozialwerke Pfarrer Sieber, zu besuchen. Die Bilder der jahrelangen Abhängigkeit geben zu denken. Der jahrelange Konsum hinterlässt sichtbare Spuren. Das tut weh.

Vor 30 Jahren gab es viele Heroin-Junkies. Welche Abhängigkeiten sind heute verbreitet?
Unterdessen hat sich die Drogenkultur komplett verlagert. Man spricht heute mehr von einem Suchtverhalten als davon, dass jemand Drogen nimmt. Alkohol ist sicher sehr verbreitet. Dazu kommt der Hanfkonsum, das Kiffen, das gefährlicher ist, als es manchmal dargestellt wird. Die Langzeitschäden sind gravierend. Ein Riesenthema ist auch der Medikamentenmissbrauch und die Game- und Onlinewelt, welche ebenfalls zu einem Suchtverhalten führen können. Und dann gibt es natürlich noch die chemischen Drogen wie zum Beispiel Ecstasy.

Wie hat sich die Drogentherapie und die Begleitung von Suchtabhängigen seit der Schliessung des Platzspitz im Meilestei verändert?
Damals – vor 30, 40 Jahren – wurde im Meilestei ein Hardcore, ein kalter Entzug gemacht. Wer einen Rückfall hatte, musste gehen. Am Sonntag war der Kirchenbesuch Pflicht und wer nicht teilnahm, musste draussen auf dem Bänkli warten. Es wurde mit christlicher Radikalität gearbeitet. So wurde mir das zumindest von Aussenstehenden berichtet. Was genau alles wahr ist, können nur die Teilnehmer und Mitarbeiter von damals sagen. Aber im Rückblick scheint manches an der Grenze zur Menschenverachtung gewesen zu sein, obwohl ich sagen muss, dass man nicht wenig Erfolg hatte. Heute arbeitet man in der Sozialtherapie ganz anders. Beziehung ist wichtig und der Glaube soll als Ressource dienen.

Ist das Drogenproblem heute unter Kontrolle?
Die Betreuung durch die Sozialämter ist heute massiv besser als in den Anfängen nach Platzspitz und Letten. Damals war man total überfordert. Heute gibt es Institutionen für die Süchtigen, Sozialämter und die KESB. Es ist heftig für eine Mutter, wenn ihr das Kind weggenommen wird. Aber der Schaden, den die Kinder sonst davontragen, ist riesig. «Platzspitzbaby» hat kein Happy End, aber Mia traf am Schluss die richtige Entscheidung, als sie ihre Mutter verliess.

In welche Richtung verändert sich der Drogenkonsum?
Da bin ich kein Fachmann, aber es gibt gesellschaftliche Tendenzen: Man will die Süchtigen möglichst wenig sehen und hören und wird versuchen, sie ganz von der Strasse zu bekommen. In welche Richtung sich die Suchtmittel entwickeln, wissen wir nicht. Wir sind hier im Gespräch mit Fachleuten. Die Selbstverwirklichung könnte zum Beispiel zum Problem werden. Dass einige Jugendliche denken, sie müssten nichts mehr tun und nur noch gamen oder ihre Zeit online verbringen, ist ungesund. Der Trend geht auch in Richtung von immer mehr Lehrabbrüchen. Wir sind heute schon bei etwa 20 bis teilweise 30 Prozent.

Sie sind selber Vater eines Sohnes. Was raten Sie Eltern von Jugendlichen im Umgang mit Drogen?
Das ist schwierig… Mit unserem Sohn haben wir klare Abmachungen getroffen. Für Jugendliche ist es oft schwer, Nein zu sagen und dann zu gehen. Sie wollen es sich mit den Kollegen nicht verderben. Deshalb kann man zum Beispiel vereinbaren, dass der Jugendliche in einer heiklen Situation ein bestimmtes Emoji an die Eltern schickt. Diese rufen ihn dann an, sagen, weshalb er unbedingt nach Hause kommen muss und holen ihn ab. Ein Hilfsmittel zu geben, um eine heikle Situation verlassen zu können, scheint mir wichtig.

Und Ihr Tipp an die Jugendlichen? Nie mit Drogen anfangen?
Natürlich, möglichst nicht damit anfangen! Bei Alkohol und Medien ist ein gesunder Umgang mit dem Konsum wichtig. Unser Sohn darf gamen und TV schauen. Aber auch hier gibt es Abmachungen. Wir kennen seine Zukunft nicht, aber egal, was passiert, er soll zu uns kommen und mit uns darüber sprechen können. Wenn ein Jugendlicher es schafft, Nein zu sagen oder sich selber Hilfe zu holen, haben wir alles erreicht, was wir konnten. Dazu braucht es aber vorgängig eine vertrauensvolle Begleitung durch die Eltern.

Zur Person

Michael Müller (41) arbeitet seit Juli 2019 als Gesamtleiter der Stiftung Ancora-Meilestei. Die Stiftung setzt sich seit rund 40 Jahren auf der Basis christlicher Werte für die Rehabilitation und Integration von Menschen ein. Unterstützt und gefördert werden Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen, mit psychisch oder sozial bedingten Beeinträchtigungen. Ihnen wird ein Zuhause auf Zeit mit Arbeitsplätzen und Tagesstrukturen angeboten.

Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin idea Schweiz.

Zur Webseite:
Ancora-Meilestei

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Datum: 16.07.2020
Autor: Irene Eichenberger
Quelle: idea Schweiz

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