Sehnsucht nach Freiheit (Teil 3)

Der Mensch kämpft um seine Freiheit.
Die Erfahrung zeigt, dass die Säkularisation keine moralische Ökologie enthält.

Weil Europa seinen jüdisch-christlichen Wurzeln nicht treu geblieben ist, hätten viele Europäer den Geschmack für die wahre Freiheit und für den Gott der Freiheit verloren.

Das ist eine der Thesen von Michael Novak, dem Autor von „Der weltweite Hunger nach Freiheit: Warum der Zusammenprall der Kulturen doch vermieden werden kann", auf die der Theologe in diesem dritten Teil des Interviews genauer eingeht.

Im ersten Teil des Interviews mit dem ehemaligen US-Botschafter ist es vor allem darum gegangen, warum eine an Werten orientierte Lebensführung, Wahrheit und Freiheit nicht voneinander zu trennen sind. Im zweiten Teil stand die Frage im Mittelpunkt, weshalb der Zusammenprall der Kulturen doch noch zu vermeiden ist.

Mit Recht kann behauptet werden, dass die Nationen des Westens, besonders die europäischen Staaten, die Sehnsucht nach Freiheit verloren haben. In Europa scheinen neue Formen kultureller und sozialer Willkürherrschaften zuzunehmen. Was ist die Ursache für diesen Trend?
Eine Antwort darauf ist der Wohlfahrtsstaat, der die persönliche Verantwortung aus dem Mittelpunkt des politischen Universums herausdrängt, um es durch den "Versorgungsstaat", die "neue, sanfte Zwangsherrschaft" ersetzt.

Eine tiefer gehende Antwort findet sich vielleicht im Drama des atheistischen Humanismus: Wenn es nämlich keinen Gott gibt, dann spielt das, was Menschen in ihrem Leben tun, letztlich keine Rolle, denn es steht ja nichts Ewiges, Wahres, Gerechtes oder Bedeutsames auf dem Spiel.

In einer Welt, in der der Nihilismus oder auch der Relativismus herrscht, sind Bequemlichkeit und eigener Vorteil genauso bedeutend wie Freiheit. Für die meisten Menschen können sie sogar noch attraktiver erscheinen. In Europa hat es jedenfalls den Anschein, dass sie wirklich attraktiver sind.

Was Christentum und Judentum einmal zu europäischen Identität beigetragen haben, das war ein Vorgeschmack über die Art und den Sinn, wie Frauen und Männer ihre persönliche Freiheit gebrauchen können: entweder dazu, ihrem Gott treu zu sein, oder dazu, sich von ihm abzuwenden. Menschen konnten Gott direkt untreu sein oder auch indirekt, durch den Verrat ihrer Verpflichtungen gegenüber anderen.

Im Grunde haben Judentum und Christentum zur europäischen Identität genau das beigetragen, was den ausgefeilten Freiheitsgeschmack, den Geschmack der wahren menschlichen Würde, ausmacht: zu zittern angesichts der Entscheidung des Menschen, die eigene Freiheit so oder so zu gebrauchen.

Als die Europäer aufhörten, Judentum und Christentum gegenüber treu zu sein – denn was den Primat der Freiheit angeht sind sich Tora und das Neue Testament einig –, haben sie sowohl den Geschmack für die Freiheit als auch den Geschmack für den Gott der Freiheit verloren. Stattdessen haben sie andere, falsche Götter aufgestellt.

Der Gott Abrahams, Isaaks, Jakobs und Jesu scheint für den westlichen Hunger nach Freiheit unentbehrlich zu sein. Es offensichtlich, dass der Säkularismus den Tod des Hungers nach Freiheit vorweggenommen hat. Aus diesem Grund behaupte ich, dass Moslems nicht gezwungen werden sollten, den Pfad der Säkularisierung zu gehen. Im Gegenteil können wir durch die Erfahrung im Westens erkennen, was auch die Erfahrung verweltlichter arabischer Staaten zeigt, dass nämlich durch die Säkularisierung die Freiheit verwelkt, genau so wie die grünen Wälder und Felder im Winter verwelken. Weltlichkeit besitzt kein Instrumentarium, um moralische Dekadenz abzuwehren, sondern nur den rohen Willen zur Macht.

Der Gott Abrahams hat Frauen und Männer frei geschaffen. Der Gott, der uns geschaffen hat, hat uns geschaffen und uns dabei die Freiheit geschenkt. Das ist die Wurzel unseres Hungers und unseres Dursts: das zu sein, was wir zu werden bestimmt sind. Freiheit ist ein Hunger und ein Durst, der allen menschlichen Wesen zu Eigen ist – sogar denjenigen, die ihn noch nicht zu stillen gesucht oder ihn im eigenen Herzen bereits abgetötet haben.

Die Geschichte der Politik kennt viele Beweise für die Annahme, dass der Hunger nach Freiheit eine konstante historische Kraft ist. Die Geschichte unserer eigenen Zeit ist eine der lebendigsten Lehren für die Wahrheit dieser Annahme. Denken Sie einmal nach, was seit dem 30. Januar dieses Jahres geschehen ist: Der mutigen Wahl im Irak folgte die "Orange Revolution" in der Ukraine, der die Wahl in Palästina folgte und danach die tapferen Demonstrationen im Libanon und noch andere öffentliche Kundgebungen in anderen Ländern.

Dann denken Sie einmal zurück an die Welt des Jahres 1905. In vielfacher Weise war die Geschichte des 20. Jahrhunderts nichts anderes als der Versuch, der gesamten Menschheit Tyrannei in den verschiedensten Formen aufzuerlegen. Und dennoch: Von einigen wenigen relativ freien Regierungsformen im Jahr 1905 ausgehend haben sich in der Welt bis mehr als 120 solcher Verfassungen herausgebildet. Nicht ohne Weltkriege, nicht ohne riesigen Kampf und nicht ohne andauernden Problemen, aber mit der unleugbaren Anstrengung und Bereitwilligkeit, sich aufzuopfern und mit bescheidenen Erfolgen zufrieden zu sein.

Jetzt geht der Hunger nach Freiheit langsam durch die moslemische Welt. In den arabischen Ländern sowie in den moslemischen Nationen der so genannten "weichen Unterdrückung" der ehemaligen Sowjetunion – jene Länder, deren Namen mit "-stan" enden.

In diesem Sinn hat mein 2003 verfasstes Buch bereits begonnen, von historischen Ereignissen bestätigt zu werden. Die Hypothese und die angegebenen Gründe scheinen heute noch realer und wirklicher als damals. Dort, wo ich mich vielleicht geirrt haben sollte, können andere die Wahrheit ans Licht bringen und berichtigen. Ich würde das sehr begrüssen.

Kann die Freiheit im Islam und in anderen Kulturen nur über die Säkularisierung gefördert werden?
Im Gegenteil: Die Erfahrung zeigt, dass die Säkularisation keine aufrecht zu erhaltene moralische Ökologie enthält. Weltlichkeit hat kein Korrektiv gegenüber moralischer Dekadenz, Bestechung und Niedergang. Ein Grund dafür, dass das alte Rom dem Christentum nachgab, war eben die höhere moralische Kraft des christlichen Ethos, ganz besonders die christliche Freiheitsvorstellung.

Eine analoge Vorstellung über die Freiheit liegt in der islamischen Vorstellung von Belohnung und Bestrafung für persönliche Handlungen. Ich würde islamische Denker ermutigen und herausfordern, mit ihren eigenen Mitteln eine voll aufblühende Theorie der Freiheit zu entwickeln, die sowohl persönlicher als auch politischer Natur sein sollte.

Wie stärken einander politische und wirtschaftliche Freiheit?
Eine Freiheit ist ohne die andere einfach sehr hinfällig: Wenn alle Demokratien den Völkern die Chance geben, zu wählen, ohne jedoch irgendeine wirtschaftliche Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen zu erreichen, dann werden diese Völker die Demokratie nicht lieben.

Wenn es aber umgekehrt einen wirtschaftlichen Wohlstand gibt, ohne dass die Bürgerrechte von Minderheiten gewährleistet seien, dann verflacht die Moral und es kann sogar zum Aufruhr kommen.

Politische Freiheit kennt keine Ruhe, solange sie nicht in wirtschaftliche Freiheit einmündet, und wirtschaftliche Freiheit fordert schon bald politische Freiheit ein. In beiden Fällen ist das, was man mit "Freiheit" meint, keine Lizenz, sondern Selbstverwaltung: persönliche Initiative und Respekt vor dem bürgerlichen Gesetz und dem Sittengesetz.

Datum: 06.07.2005
Quelle: Zenit

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