Das gescheiterte Projekt

Scherbenhaufen oder Denkanstoss?

Das vom Bundesrat beschlossene Scheitern eines Rahmenabkommens mit der Europäischen Union lässt verschiedene Deutungen zu. Sie finden sich auch unter Christen. Doch eines sollten wir nicht vergessen.
EU und Schweizer Flagge (Bild: Facebook @SchweizEuropa)

Klar: Der gescheiterte Rahmenvertrag mit der EU ist kein Geschäft, das Christen stark bewegt hat. Auch unter Evangelischen sind dazu gegensätzliche Haltungen präsent, und etlichen war es einfach egal. Je nach Denkmuster und politischem Interesse.

Wir gehören dazu

Für etliche gab es gute Gründe, sich für den Vertrag zu engagieren wie zum Beispiel den Nationalrat Eric Nussbaumer, Mitglied der Evangelisch-methodistischen Kirche. Er sieht im Projekt Europa eine Chance für die Schweiz, sich einzumischen und mitzugestalten. In der Zeitschrift europa.ch schreibt er: «Wir sind Europäerinnen und Europäer. Es braucht diese einfache Erkenntnis, da es in diesen Zeiten der neuen Autokraten, der Bedrohung der Demokratien kein besseres und mutmachenderes Bekenntnis gibt, als sagen zu dürfen: Wir gehören zur Europäischen Wertegemeinschaft.» Er ist überzeugt: Christen sind berufen, sich auch politisch zum «Wohl der Stadt» einzubringen.

Die Schweiz als christliche Nation

Es gibt aber auch die Sicht derjenigen, für welche die Schweiz eine herausragende Bedeutung unter den Nationen hat, weil sie auf christlichem Fundament aufgebaut und daher eine besondere Bestimmung als genuin christliche Nation habe. Zudem habe die Neutralität sie bewahrt, in fremde Konflikte und Kriege verwickelt zu werden. Sie berufen sich gerne auf das alte Israel, das sich nicht mit den Völkern vermischen sollte. Sie legen grossen Wert auf Freiheit und Unabhängigkeit, Werte, die man aus der Bibel ableiten kann. «Stellt euch nicht dieser Welt gleich!»

Bezüglich EU spielt auch die Interpretation endzeitlicher Ereignisse für viele eine Rolle. Die damalige EWG spielte in den Endzeitszenarien der 1970er Jahre und darüber hinaus eine zentrale Rolle, weil darin der antichristliche Zehnstaatenbund gesehen wurde. Also lässt man sich besser nicht mit diesem Machtgebilde ein, auch wenn es jetzt wesentlich mehr als zehn Staaten zählt und die damalige Interpretation nicht mehr zutrifft.

Abgrenzung oder Integration?

Man kann in der Tat mit der Bibel sowohl für Abgrenzung wie auch Integration argumentieren. Christen sollen sich ja nicht «fremder Sünden teilhaftig machen». Heiligung bedeutet nach diesem Denkmuster immer auch Verzicht und Distanzierung. Politische Macht wird schon im Alten und Neuen Testament ambivalent wahrgenommen. Das Neue Testament fordert einerseits die Unterordnung unter die geltende politische Ordnung (Römerbrief Kapitel 13, Verse 1-7), warnt aber auch vor endzeitlichen korrupten Machtsystemen, von dem sich Christen fernhalten sollen wie der «Hure Babylon» in der Offenbarung Kapitel 17.

Unterschiedliche «christliche» Weltbilder

Ein anderes Weltbild zeichnet diejenigen Christen aus, denen an der Veränderung der Welt durch persönliche Integration in die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen gelegen ist. Sie betonen den Auftrag, Salz und Licht in der Welt zu sein und dabei als Zeugen und Vorbilder für die angebrochene Realität des Reiches Gottes zu wirken, auch innerhalb eines von Macht- und Ränkespielen durchzogenen Systems. Weshalb sollte man sich nicht im Vertrauen auf Gottes Führung und Schutz auch in internationale Strukturen einmischen und dort die persönlichen Werte einbringen?

Der Verzicht auf eine stärkere Integration in die EU wäre aus dieser Sicht eine verpasste Chance. Gerade die Erfahrung im Umgang mit unterschiedlichen Kulturen und Denkweisen, welche die Schweiz seit 1848 gewonnen und in einem föderalistischen System kultiviert hat, könnte der EU heute gut tun, argumentieren sie. Das Zusammenleben verschiedener Völker, Kulturen und religiöser Traditionen prägte ja schon die Urchristenheit und ist auch eine Botschaft des Neuen Testaments.

Der Denkanstoss

Es gab zum Glück bis heute keinen Schlagabtausch zwischen christlichen Befürwortern und Gegnern des Rahmenvertrags oder gar eines EU-Beitritts. Und das ist gut so. Das Scheitern des Vertragswerkes könnte aber das Nachdenken über den christlichen politischen Auftrag befördern. Denn in einer Welt, wo politische Polarisierungen – auch in der Schweiz – immer mehr zum Alltag gehören und die Verständigung schwieriger wird, können Christen aus ihrem Fundus heraus Vermittlerdienste leisten.

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Datum: 01.06.2021
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet

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