Schock bei der Landeskirche: Zürcher Regierungsrat findet Religionsunterricht entbehrlich

Religionsunterricht
Reformierte Kirchenrätin Anemone Eglin

Am nächsten Montag wird die Legislatur 2003-07 des Zürcher Kantonsrats und Regierungsrats eröffnet. Dazu finden sich die neugewählte Legislative und Exekutive mit den Leitern der beiden grossen Landeskirchen, Kirchenratspräsident Pfr. Ruedi Reich und Weihbischof Peter Henrici, im Grossmünster zu einem feierlichen Gottesdienst ein.

Aber der Haussegen hängt schief, denn in einem wichtigen Bereich, wo Staat und Kirche bisher zusammen gearbeitet haben, setzt die Regierung zum Kahlschlag an: Sie will den Religionsunterricht an der Volksschule (1.-8. Klasse) im Zuge der Sparbemühungen nicht mehr kantonal finanzieren.

Nicht nur Oberstufe, auch Primarschule

„Die Angebotspflicht für die Fächer Biblische Geschichte und Religionsunterricht an der Oberstufe soll aufgehoben werden. Die Fächer sind für die Gemeinden fakultativ, der Staatsbeitrag entfällt“, heisst es in den Sparbeschlüssen des Regierungsrats von Anfang Mai.

Mit anderen Worten: Die Fortführung des Religionsunterrichts – nicht nur an der Oberstufe, wie der Zürcher Kirchenbote schrieb, sondern auch in der Primarschule – wird ins Belieben der Gemeinden gestellt (wie überhaupt diverse Sparmassnahmen der Kantonsregierung auf ihre Kosten gehen, wenn auch der Regierungsrat davon ausgeht, dass sie insgesamt entlastet werden).

Reformierte Kirchenrätin sehr besorgt

Die für Bildung zuständige reformierte Kirchenrätin Anemone Eglin äusserte sich Livenet gegenüber schockiert über den Beschluss, vom dem sie aus der Zeitung erfuhr. Die Landeskirche will die Sparmassnahme bekämpfen. Der Kirchenrat bereitet eine Stellungnahme vor.

Kirchenrätin Eglin kritisiert, dass die Regierung die religiöse Dimension aus dem Bildungsauftrag des Staates herauslösen will. Damit werde der Neigung junger Menschen, sich abzuschliessen und Vorurteilen anzuhängen, noch Vorschub geleistet – „ein Schritt weg von der Integration“. Anemone Eglin macht der Beschluss nicht nur im Blick auf den Dienst der Zürcher Kirchen, sondern vor allem hinsichtlich der gesellschaftlichen Entwicklung Sorge.

Bisher gehören eine Wochenstunde Biblische Geschichte in den sechs Jahren der Primarschule und zwei bzw. eine Wochenstunde Religion in der 7. und 8. Klasse (in Zusammenarbeit mit den beiden grossen Landeskirchen, darum die Bezeichung ‚konfessionell-kooperativer Religionsunterricht‘ KokoRU) zum Zürcher Lehrplan. Das Fach Biblische Geschichte kostet kantonsweit jährlich 7,5 Millionen, der Oberstufen-Religionsunterricht 4,8 Millionen. Der Kanton zahlt daran 4 Millionen, die übrigen Kosten von über 8 Millionen tragen die Gemeinden.

Der Bildungsrat entscheidet – nach einer Vernehmlassung

Weil die Gestaltung der Lektionentafel an den öffentlichen Schulen in die Kompetenz des Bildungsrates fällt, wird dieses vom Bildungsdirektor geleitete und ihm verantwortliche Gremium endgültig entscheiden, nach einer Vernehmlassung im Herbst, bei der die Gemeinden, die Lehrer und die Landeskirchen angefragt werden.

Die Zürcher Bildungsdirektion beschloss im Jahr 2001, das KokoRU-Oberstufenfach weiterzuentwickeln zu einem obligatorischen religionskundlichen Fach ‚Religion und Kultur‘. Damals unterstrich Bildungsdirektor Ernst Buschor, der Religionsunterricht gehöre zu einer ganzheitlichen Bildung.

Wie weiter bei ‚Religion und Kultur‘?

Eine Kommission des Bildungsrates unter Leitung von Prof. Jürgen Oelkers erarbeitet derzeit die Grundlagen für das geplante Oberstufen-Fach, in dem die verschiedenen Religionen „gleichermassen und gleichwertig“ behandelt werden sollen. Wie das amtliche Zürcher Schulblatt im November 2001 festhielt, würde „eine schwerpunktmässige Ausrichtung auf das Christentum der angestrebten Ausgewogenheit entgegenstehen“.

Ob dieses geplante neue Fach vom Sparbeschluss überhaupt betroffen ist, bleibt vorerst unklar. Würde es der Kanton einführen, könnte er nur einen kleinen Teil der bisherigen Aufwendungen sparen.

Sparprogramm ohne Tabus – besonders hart bei der Bildung

Der Beschluss ist im Rahmen des schmerzhaften Abbaus staatlicher Leistungen zu sehen, den der Zürcher Regierungsrat angesichts der miserablen Finanzlage des Kantons unter dem Druck der SVP und weiterer bürgerlicher Kräfte beschlossen hat. Der Abbau betrifft alle Bereiche; so soll auf die Wiedereinführung des Altersabzugs bei den Steuern verzichtet und die AHV/IV-Beihilfen abgeschafft werden. Ab 2006 will die Regierung höhere Steuern einziehen. Bis 2007 will der Staat rund 1230 Stellen abbauen (der Kanton beschäftigt derzeit laut der NZZ auf 30'000 Stellen 47'000 Personen).

Die Bildungsdirektion (hat ihr abtretender Chef Ernst Buschor sich innerlich bereits von Zürich verabschiedet?) ist besonders hart vom Sparzwang betroffen: Von den 144 vorgelegten Einzelmassnahmen, die von 2004-07 Einsparungen von insgesamt 1‘474 Millionen Franken bewirken sollen, sind 33 im Bildungsbereich angesiedelt. Über vier Jahre sollen in diesem Bereich über 700 Stellen abgebaut werden.

Die Redimensionierung der Leistung der Fachhochschulen und um 1,5 Schüler höhere Klassengrössen in der Volksschule sollen zusammen 36 Millionen Minderausgaben pro Jahr bewirken. An den Mittelschulen will der Regierungsrat zwei Wochenstunden abschaffen (jährlich 10 Millionen) und den Hauswirtschaftskurs streichen (4 Millionen). Die Diplommittelschule soll abgeschafft, der Handarbeitsunterricht verringert werden.

Irrer Säkularismus im ‚Jahrhundert der Religionen‘

Vom Sparpotential her reiht sich das Nein zum Religionsunterricht ein in eine grosse Reihe von ‚kleineren‘ Sparmassnahmen – viel sparen kann der Kanton hier nicht. Sachlich sticht der Vorschlag heraus, weil er ein Desinteresse des Staats am wichtigen Bereich der religiösen Bildung markiert, dies zu einer Zeit, wo religiöse Fragen die Menschen vermehrt umtreiben. Bereits ist das 21. Jahrhundert als das ‚Jahrhundert der Religionen‘ bezeichnet worden. Dazu kommt, dass sich die Zürcher, jedenfalls der urbane Teil der Bevölkerung, ihrer multikulturellen Offenheit rühmen (fast 30 Prozent der Einwohner der Stadt Zürich sind Ausländer).

Man muss kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass diese bereits gefährdete Offenheit bei einer weiteren religiösen Verflachung und Verwilderung leiden wird. Schon jetzt wird weitherum eine Unkenntnis der Bibel und von Hauptstücken des christlichen Glaubens und Ethos beklagt. Je weniger die Zürcher Kinder von der Mehrheitsreligion mitbekommen, die die hiesige Kultur und das Gemeinwesen von Grund auf geprägt hat, desto schwächer bildet sich ihre religiöse Identität aus. Damit fehlt eine wesentliche Voraussetzung für den Dialog mit religiös anders geprägten Menschen, welcher einen bewussten eigenen Standort voraussetzt.

Zwinglis Zürich – Pionier der Volksbildung

Das moderne Zürich entstand durch die Reformation Zwinglis und Bullingers, dessen 500. Geburtstag nächstes Jahr begangen werden soll. Von Beginn weg war Religion Teil der Volksbildung: Zwingli band Kirche und Staat in der Verantwortung fürs Gemeinwesen zusammen. Seine Nachfolger führten in Zürich die Schulpflicht für alle ein, damit alle sich an der Bibel bilden konnten – in der frühen Neuzeit ein revolutionärer Schritt. Dieser Grundpfeiler des Zürcher Staats scheint in Vergessenheit geraten zu sein, wenn seine Exekutive die Fortführung des Religionsunterrichts den Gemeinden überlässt.

CVP-Vertreter Ernst Buschor nimmt den Hut (die Partei mit dem C im Namen ist in der Regierung nicht mehr vertreten) und wird, wenn der Regierungsrat nicht eine Rochade beschliesst, durch die neugewählte SP-Politikerin Regine Aeppli ersetzt. Das Zepter bei der Sparübung führt Finanzdirektor Christian Huber von der SVP, der kein Hehl daraus macht, dass er aus der Kirche ausgetreten ist.

Sparprogramm der Zürcher Regierung im Internet:
http://www.kanton.zh.ch/Appl/webktzh.nsf/Pressemitteilungen

Datum: 16.05.2003
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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