Graham Tomlin

Bischof rettet Quartier

Bischof Graham Tomlin half bei einem Brand (Collage)
«Cultural Witness» bedeutet, dass Kirchen öffentlich wirksamer und populärer werden sollen. Wie das geschehen kann, macht Bischof Graham Tomlin bei einem Grossbrand in London vor. Er spricht in drei Monaten in Fribourg zum Thema.

Vor sechs Jahren ereignete sich im Westen von London eine Katastrophe: Ein elektrischer Defekt in einem Kühlschrank in der Küche einer Wohnung im vierten Stock führte zu einem Grossbrand im 24-stöckigen Grenfell Tower. Für eine Renovierung war der Sozialbaublock mit hoch brennbarem Material verkleidet, das das kleine Haushaltsfeuer in ein Inferno verwandelte. Es brannte kurz nach Mitternacht in fast allen Stockwerken. Als die Feuerwehr kam, wurde den Familien geraten, in ihren Wohnungen zu bleiben, bis das Feuer gelöscht ist. Doch das Hochhaus brannte 60 Stunden lang. Ohne diesen Rat hätten viele nicht sterben müssen. Insgesamt kamen 72 Menschen ums Leben. Die meisten hatten Migrationshintergrund. Es war der schlimmste Verlust von Menschenleben bei einem Vorfall in London seit dem Zweiten Weltkrieg. Das Feuer hat einen Nerv im sozialen und politischen Leben getroffen. Es hat Fragen wie soziale Ungleichheit, Wohnungsbau und Einwanderung in den Mittelpunkt gerückt, wie es nur wenige andere Tragödien getan haben.

Kirchen waren die ersten

Einer war Mittendrin: Der anglikanische Bischof Graham Tomlin. Die Kirchen im Gebiet Kensington waren die ersten, die nach dem Ausbruch des Feuers sofort ihre Türen öffneten. Zusammen mit den örtlichen Moscheen und Gemeindezentren wurden sie zu Orten der Erholung, des Mitgefühls, der Tassen Tee, des Zuhörens und Betens. Unter der Leitung des Bischofs von Kensington haben die Kirchen unmittelbar nach dem Brand Unterstützung angeboten und fördern auch über sechs Jahre danach das Wohlergehen und den Zusammenhalt der Gemeinschaft.

Graham Tomlin sagte, die Katastrophe sei eine Gelegenheit zur Erneuerung, sie könne Grossbritannien zusammenführen. So zitiert ihn die Zeitung «The Guardian». Die Tragödie im Grenfell Tower habe dem Vereinigten Königreich die einmalige Gelegenheit gegeben, das versagende soziale Gefüge des Landes zu reparieren und eine solidarischere und mitfühlendere Gesellschaft zu werden: «Ein angemessenes Vermächtnis für die 72 Todesopfer wären tiefgreifende Veränderungen in den Bereichen Demokratie, Wohlfahrt, Wohnungsbau, Nachbarschaft und Anerkennung der Bedeutung des Glaubens und anderer Gemeinschaftsorganisationen.» 

Bischof erarbeitete Bericht

Der ausgebrannte Grenfell Tower steht noch heute: Über 4'500 Stützen wurden in das Gebäude eingebaut, um die knarrende Infrastruktur in Gang zu halten. Einige Anwohner würden es begrüssen, wenn das Gebäude abgerissen würde, denn es bleibt eine ständige schmerzhafte Erinnerung. Mehr als sechs Jahre nach der Tragödie hat noch niemand die Verantwortung dafür übernommen. Sechseinhalb Jahre später gibt es immer noch keine Strafverfolgung. Und die öffentliche Untersuchung hat noch keinen Bericht vorgelegt. Manche Menschen bezeichnen Grenfell als Verbrechen. Andere als Tragödie.

Graham Tomlin dazu: «Grenfell  war kein unglücklicher Unfall - es war das Ergebnis unvorsichtiger Entscheidungen und ignorierter Vorschriften. Das Werk einer Industrie, die zeitweise mehr daran interessiert zu sein schien, Profite zu machen und Produkte zu verkaufen, als an dem kostbaren Wert des menschlichen Lebens und der Sicherheit der Menschen in ihren eigenen Häusern. In christlicher Sprache: Grenfell war das Ergebnis von Sünde.» Der Bischof hat einen Bericht mit dem Titel «The Social Legacy of Grenfell: an Agenda for Change» (Das soziale Vermächtnis von Grenfell: eine Agenda für den Wandel) verfasst, der auf Gesprächen mit Überlebenden, Hinterbliebenen, Stadträten, Gemeindegruppen und sozialen Aktivisten beruht. «Wenn sich eine Katastrophe dieses Ausmasses in unseren Gemeinden ereignet, ist das eine Gelegenheit zur nationalen Busse, eine Gelegenheit, die Art und Weise unseres Zusammenlebens zu überprüfen», sagte er. Laut Tomlin gibt es einen grossen Bedarf an Versöhnung im Land: «Wir brauchen Dinge, die uns zusammenbringen können. Die Lehren aus Grenfell zu ziehen, kann ein Weg sein, dies zu tun.» Tomlin sagte, die Gemeinde um Grenfell mache langsam Fortschritte in Richtung Heilung: «Ein Teil der Wut hat sich gelegt und wurde in die Entschlossenheit umgewandelt, etwas zu verändern. Aber sie ist noch nicht verschwunden.»

Anglikanische Kirche schafft Zentrum

Heute ist Graham Tomlin der Direktor des Zentrums für «Cultural Witness» der anglikanischen Kirche. Es soll eine wichtige Stimme im öffentlichen Leben werden. Tomlin: «Wir können unser ehrgeiziges Ziel nur erreichen, wenn sich die Art und Weise grundlegend ändert, wie die christliche Stimme in unserer heutigen Kultur präsentiert wird. Um dies zu erreichen, ist einer unserer wichtigsten Investitionsbereiche die Kommunikation.» Dazu gehört unter anderem die Meinungswebsite «Seen & Unseen» mit gut geschriebenem, intelligentem und leicht zugänglichem Material. Auf dem Portal wird erklärt, wie der christliche Glaube funktioniert und wie er die Welt anders sieht. Es werden Geschichten über die Auswirkungen des Glaubens auf Einzelne und Gemeinschaften erzählt, so Tomlin: «Wir freuen uns, mit einigen der weltweit führenden Theologen und Kommunikatoren zusammenzuarbeiten und wöchentliche Artikel, Videos und Podcasts zu erstellen.»

Studientage in Fribourg mit Graham Tomlin

«Wir erleben aktuell die Umwertung aller Werte. Was heute plausibel oder moralisch gut scheint, ist oft fast das genaue Gegenteil einer christlichen Vision des guten Lebens», sagt Oliver Dürr, Direktor des Zentrums Glaube und Gesellschaft an der Universität Fribourg. Im 20. Jahrhundert gab es noch einen Konsens. Dürr: «Der war zwar nicht explizit christlich, aber doch implizit darauf basierend. Denn der christliche Glaube stellt mitunter das Fundament, auf dem Europa steht.» Im letzten Jahrhundert hat das Verkünden der guten Botschaft noch geheissen, die Menschen daran erinnern, was sie kulturell schon geglaubt haben. Dürr: «Heute sind wir mit Menschen konfrontiert, die noch nie etwas Relevantes über das Christentum gehört haben. Es gibt teils gar keine Anknüpfungspunkte mehr.» Aktuell analysiert Oliver Dürr vier Trends:

  • Pluralisierung
    Es gibt immer mehrere Optionen.
     
  • Individualisierung
    Alles für mich selbst herausfinden, meinen Weg finden.
     
  • Relativierung
    Für dich vielleicht moralisch gut, ich sehe es anders.
     
  • Fragmentierung
    Viele Dinge sind nicht mehr selbstverständlich und nicht mehr kompatibel miteinander. 

Heute müsse man den Glauben zuerst erleben können. Das ist das Thema der 10. Fribourger Studientage zur theologischen, kulturellen und gesellschaftlichen Erneuerung vom 13. bis 15. Juni 2024. Nebst Graham Tomlin werden u.a. Tom Holland (Bestseller-Autor u.a. Dominion: The Making of the Western Mind), John Lennox (ex-Mathematikprofessor der Universität Oxford), Johannes Hartl (Theologe, Autor und Gründer des Gebetshauses Augsburg) oder Jeff Fountain (Direktor des Schuman Centre for European Studies) sein. 

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Dienstagsmail.

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Datum: 03.04.2024
Autor: Markus Baumgartner
Quelle: Dienstagsmail

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