Alex Frei. Jetzt heisst es kreuzige ihn, statt Hosianna.

Alex Frei
Thomas Zindel

Treten und Spucken – sind wir Schweizer ein «einig Volk von Barbaren»?
Dies die Frage an Sportler-Seelsorger Thomas Zindel, unseren EM-Experten. Weiteres Thema: Die Presse liebäugelt mit Voodoo.

Wir sprechen an dieser Stelle nicht über taktische Finessen; das machen bereits alle anderen. In unserem Talk steht die mentale Ebene des Spielgeschehens im Zentrum und was sie für unser Leben aussagen kann. Thomas Zindel ist Leiter von «Athletes in Action», Importeur der «Fussball-Bibel» und unser EM-Experte.
Daniel Gerber: Thomas Zindel, man sagt, dem christlichen Abendland gingen die Werte aus. Nun kriegten wir in drei Spielen zwei Platzverweise, und ein dritter Spieler wurde für den Rest des Turniers gesperrt. Sind wir Helvetier bereits Barbaren geworden?
Thomas Zindel: Diese Ereignisse beschäftigten mich sehr. Es ist für mich der Hinweis, dass die Spieler vor allem im konditionellen Bereich trainiert wurden. Dort sehe ich auch keinen grossen Leistungsunterschied zwischen den Schweizern und anderen Spielern. Gegen Frankreich wären zwei von drei Toren zu verhindern gewesenund ein eigenes war schön herausgespielt. Der Unterschied ist also nicht so gross wie das Resultat vermuten lässt. Über weite Strecken waren wir mindestens ebenbürtig. In heiklen Momenten aber waren wir an dieser EM uns selber die grössten Gegner. Bei der Schulung der Charaktereigenschaften und der Haltung gibt es eine Lücke. Da muss man schauen, dass die geschlossen werden kann. Die Stärke eines Spielers sieht man in der Niederlage und unter Druck.

Wir gehen mit einem Torverhältnis von 1:6 und einem Punktestand von 1:7 nach Hause – und viele sind zufrieden. Wie wenn die Fluggesellschaft «Swiss» in einem Monat 500 Millionen Defizit eingefahren hätte und man jetzt darauf verweist, wie gut man sich verkauft habe ... Spieler und Trainer können sicher nicht zufrieden sein. Man muss analysieren und reagieren. Nun sind wir auf dem Weg zur WM und zur nächsten EM, bei der die Schweiz dabei sein wird. Durch die U21- und U17-Nationalteams haben wir eine verheissungsvolle Perspektive. Das täuscht aber nicht darüber hinweg, dass wir puncto Reife und Einstellung hinterherhinken. Auch die Mentalität, die alles entschuldigen will, und das Reden von "ehrenvollen Niederlagen" müssen wir ablegen. Wir haben aber noch keine Kultur entwickelt, die bedingungslos hinter dem Team steht. In der Presse wird es abgeurteilt und hängen gelassen. Ich denke, ein bedingungsloser Rückhalt würde der Mannschaft extremen Drive geben.

Handkehrum: Früher sind wir in der Qualifikation zu einem grossen Turnier ehrenvoll ausgeschieden, inzwischen reicht es zu "ehrenvollen Niederlagen" an den Turnieren selbst. Köbi Kuhn denkt differenziert und gibt sich mit ehrenvollen Niederlagen nicht zufrieden. Mich beeindruckt, dass er zu einer solch radikalen Umstellung im letzten Spiel bereit war. Dass der Jüngste ein Tor schoss, ist für mich prophetisch – auch für uns Christen. Nämlich dass da eine neue Generation kommt, die mutig und kühn ist. Ähnlich wie Jeremia. Zuerst sagte er: «Ich bin zu jung und rhetorisch nicht gut drauf.» Gott sagt: «Sag das nicht, ich bin bei dir!» Die Jungen nehmen ihren Platz ein und tun das, was Gott sagt.

Um Alex Frei kommen wir nicht herum. Einerseits: Er machte eine Dummheit. Andererseits: Wenn man ihn wegen Video-Bildern nachträglich sperrt, warum ahndet man dann nicht auch das Foul von Steven Gerrard? Der Stoss in den Rücken hätte zumindest Gelb und damit eine Vorbelastung im letzten Gruppenspiel bedeutet ...Ich glaube, dass das nicht relevant ist. Es geht um die Verantwortung, mit der man auf eine solche Situation reagiert. Ob anderes vorher gerecht oder ungerecht ist, das bleibt offen. Wenn eine konkrete Situation vor uns liegt, dann müssen wir entscheiden, wie wir handeln. Sonst geraten wir auf der Ebene der Selbstgerechtigkeit und wollen Ungerechtes selber wieder wettmachen. Dabei macht man aber den Zweiten. Womit ich Gerrards Tätlichkeit nicht rechtfertigen will ... Gericht und Gerechtigkeit muss man einem anderen überlassen. Emotional verstehe ich Freis Reaktion total. Aber sie nützt nichts. Ich denke dabei an eine Bibelstelle, die sagt: «Der Name von Gott ist wie ein starker Turm, wie eine Burg. Wer darin ist, der wird beschützt.» Wir wissen alle, wie gross die Gefahr ist, dass wir selber Justiz üben. Mich beeindruckt jemand, der solche Sachen stehen lassen kann. Mir tut es leid um Alex Frei, der nun zerrissen wird. In der Zeitung wird er «Lügen-Frei» genannt. Hätte er ein wichtiges Tor geschossen, hätte man ihn hofiert. Diese Mentalität gefällt mir nicht. Zuerst ruft man «Hosianna», dann «Kreuziget ihn»!

Beim Tor hätte es dann "FREI-Stoss ins Viertelfinal" geheissen ... Das kann doch nicht sein. Ein Sportler, der immer unter einem Damoklesschwert agieren muss, der kann einfach nicht frei aufspielen.

Vor dem Spiel Deutschland gegen Holland legte die holländische Wochenzeitung «Panorama» eine Voodoo-Puppe aus Papier und drei Nadeln bei. Man sollte diese während dem Spiel in die Puppe stecken und dabei fest an die deutsche Mannschaft denken. Ist das eine Spielerei?
Ich habe vor mir gerade ein ganzseitiges Inserat, das die «Schweizer Presse» publiziert hat. Darauf ist ein englischer Spieler mit 20 Nägeln in den Beinen zu sehen. Der Spruch: «Helfen Sie mit, dass England im Spiel gegen die Schweiz schwere Bein hat.» In der Bibel steht: «Was wir säen, das ernten wir.» Der Spielverlust und Gottes Reaktion bleiben nicht aus. Hier verlassen wir die «Comfort Zone». Wir stossen in einen Bereich zwischen Fluch und Segen vor. Ich lege mit solchen "Spielereien" Flüche und Unheil auf andere Leben.

Schwere Beine hatten die Schweizer dann auch, weil sie wegen einem Platzverweis zu zehnt statt zu elft spielen mussten. Aber das Inserat war ja sicher als Witz gemeint. Das macht doch nichts? Wer Voodoo praktiziert oder Harry-Potter-Fan ist, der setzt das auch um. Es kommt als Witz daher; der Geist dahinter ist aber unmissverständlich klar. Es ist auch eine Überheblichkeit. In spielerischer Art stellen wir uns über Dinge und spielen gleichzeitig mit dem Feuer. Entweder kann man die Presse ernst nehmen oder nicht. Bei diesem Inserat der «Schweizer Presse» frage ich mich schon, was das soll. Was wir säen, ernten wir. Wenn wir segnen, fällt auch das auf uns zurück. Es kommt schlecht heraus, wenn man spirituelle Kräfte zur Zerstörung des anderen einsetzt.

www.athletes.ch

Datum: 23.06.2004
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet.ch

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