Die Vatikanische Bibliothek ist
eine der grössten, wertvollsten und geheimnisvollsten der Welt. Neuere Bücher
stehen dort neben uralten Dokumenten. Nicht erst seit Dan Browns «Illuminati»
ranken sich zahllose Mythen um angebliche geheimen Inhalte der Bibliothek. Was
ist dran an den Vorstellungen?
Robert Langdon bekommt in Dan
Browns Buch «Illuminati» Zugang zum Vatikanischen Archiv und blättert mit der
Physikerin Vittoria Vetra in geheimen Unterlagen von Galileo Galilei. Bei einem
weiteren Aufenthalt in der Bibliothek wird ihm der Strom abgestellt und den
hermetisch durch Glaswände verriegelten Räumen wird der Sauerstoff entzogen. Sehr
dramatisch kann er sich in letzter Minute retten. Diese Mischung aus Spannung,
Hightech und antiken Geheimnissen macht einen Grossteil der Faszination bei
Browns Thrillern und ihren Verfilmungen aus – denn wer begeistert sich sonst
für ein Archiv?
Die Schätze der Vatikanischen
Bibliothek
In der Bibliotheca Apostolica
Vaticana, der Bibliothek des Heiligen Stuhles, befinden sich ausserordentliche
Schätze: Briefe von Kaiser Friedrich Barbarossa, der österreichisch-ungarischen
Kaiserin Sissi oder auch von Abraham Lincoln. Daneben stehen die Akten des
Prozesses gegen Galilei oder die Bannbulle von Papst Leo X. gegen Martin
Luther. Aus neuerer Zeit sind Unterlagen des «Kriegs-Papstes» Pius XII. (1939–1958)
enthalten wie zum Beispiel die Bittschriften des jüdischen Flüchtlings Martin
Wachskerz:
«Es ist aus höchster Not und Verzweiflung, in der ich mich an seine Exzellenz
wende. Retten Sie uns. Haben Sie Erbarmen.»
Insgesamt steht in der zentralen
Bibliothek des Vatikans die unfassbare Menge von über zwei Millionen Büchern,
Briefen und Manuskripten auf zusammen 85 Regalkilometern.
Überraschungsfunde
Tatsächlich kommt es in dieser Masse
immer wieder zu überraschenden Funden. Dem ORF berichtete die Historikerin und
ehemalige Leiterin der Handschriftenabteilung in der Vatikanischen Bibliothek Christine
Maria Grafinger zum Beispiel von der Absolution der Tempelritter. Der Orden wurde 1118 in
Jerusalem gegründet, und Papst Clemens V. löste ihn 1312 auf. Damals standen
Vorwürfe von Ketzerei und Unzucht mit Tieren im Raum. Eine 60 Meter lange
Pergamentrolle mit den Prozessnotizen zeigt jedoch, dass der Papst ihnen die
Absolution erteilte und die Vorwürfe zurückwies – verboten blieben die Templer
dennoch.
Lang erwartete Aufklärung
Schriften wurden in Rom bereits
seit dem 4. Jahrhundert gesammelt. Ein offizielles Geheimarchiv gab es seit
1612 – wobei der Begriff «geheim» irreführend ist. Die Bibliothek des Papstes
war nämlich «secretum», also privat, aber nicht geheim. 1881 öffnete Leo XIII.
die Archive für die Forschung. Seit damals darf eine handverlesene Gruppe von
akkreditierten Forschern dort arbeiten. Aktuellere Dokumente werden in der
Regel 70 Jahre nach der Verfassung zur Forschung freigegeben – dies betrifft momentan
Schriften aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, die die Rolle der katholischen
Kirche belegen.
Seit 2015 warten Wissenschaftler
auf den Zugang zu diesen Daten, der erst im Mai letzten Jahres erfolgte – und
durch die Corona-Pandemie im Mai 2020 weitgehend unterbrochen wurde. Schon
jetzt scheint klar, dass «Hitlers Papst», Pius XII., mehr über den Holocaust
wusste,
als er später zugestand.
Während der Vatikan seine
Transparenz unterstreicht und sich darum bemüht, Schriften auch online
zugänglich zu machen, bemängeln Kritiker, dass Rom zwar viele Dokumente
veröffentliche, aber sich immer das Recht herausnehme, einzelne zurückzuhalten.
Der Mythos bleibt
Viel zu wenige Menschen haben
Zugang zu den Informationen der Vatikanischen Bibliothek. Und gleichzeitig
berühren diese Dokumente Geschichte und Geschichten, die wir als spannend
empfinden: den Ketzerprozess gegen Galilei, Luthers Verbannung, die
Auseinandersetzung mit katholischen und anderen Geheimbünden oder auch die
Rolle der Kirche während der NS-Zeit. Es bleibt also viel Raum für Spekulation,
Romane und Mythen. Und so lange die katholische Kirche jeweils über 350 Jahre
braucht, um Akten wie die des Prozesses gegen Galilei noch einmal zu sichten
und den Verurteilten schliesslich zu rehabilitieren (immerhin erst 1992!), wird
sich daran nicht viel ändern.