„Wenn wir reden, merken wir, dass wir Menschen sind“

Freunde geworden: Shadia und Maram (vorn), Nomi, Tanas und Evan in der Schweiz.
Das Trennende überwunden: Frauenkonferenz
Israeli und Palästinenser leben
Trennmauer in Israel.
Szene bei einem Checkpoint zwischen Israel und den Gebieten.
Wenn wir reden, merken wir

Israeli und Palästinenser leben nur wenige Kilometer voneinander entfernt – doch in total geschiedenen Welten, wenn sie nicht zusammengeführt werden, einander in die Augen sehen und miteinander reden. Von solchen Erfahrungen haben kürzlich zwei Israeli (Juden) und drei Palästinenser (Araber) bei einem Besuch in der Schweiz erzählt.

Mauern, Stacheldraht, Checkpoints – und vor allem Misstrauen, auch Angst und Bitterkeit trennen die Menschen. Die allermeisten Juden in Israel haben keine persönliche Beziehung zu einem Palästinenser. Ohne Spezialgenehmigungen können sie nicht hinreisen. Der Militärdienst prägt die jungen Israeli, jenseits der Mauer sind sie islamistischen Hassparolen ausgesetzt.

Was tun, um Spannungen abzubauen? Einer der wenigen funktionierenden Wege sind vertrauensvolle persönliche Beziehungen – auch wenn sie im Ganzen des Nahostkonflikts bloss ein Tropfen auf den heissen Stein darstellen. Etwa 200 Personen bringt die Organisation Musalaha (arabisch für: Versöhnung) jedes Jahr zusammen, so dass sie einander kennen lernen und Freunde werden können. Die Hälfte erlebt dies zum ersten Mal.

Freundschaft trotz politischen Differenzen

Im Gespräch mit Livenet unterstreichen die fünf jungen Erwachsenen aus Israel und den Palästinensergebieten, dass sie nur so eine Beziehung aufbauen konnten. Shadia (25), in Nazareth aufgewachsen, ist seit einem Wüstentrek 1999 in Jordanien mit einer messianischen Jüdin befreundet. „Trotz politischer Differenzen hat unsere Freundschaft gehalten.Vorher hatte ich keine Beziehung zu einer Israeli gehabt.“ Nomi (23) verbrachte auf einem Wüstentrip zum erstenmal Zeit mit Palästinensern. Die Familie von Tanas (38) war 1948 von Jaffa nach Bethlehem geflohen. Durch Musalaha lernte er einen Juden kennen, der sein bester Freund – und Trauzeuge – wurde.

„Er hatte keine Ahnung, wie es uns ging“

Nomi verweist darauf, dass Israelis nicht nach Bethlehem fahren. „Es gilt als gefährlich. Warum auch dahin fahren? Man verweist auf Gewaltakte. Die Leute fürchten um ihre Sicherheit.“ Auch Shadia, in Israel lebende Palästinenserin, hatte infolge der Medienberichte Angst. Tanas beklagt die Desinformation: „Mein jüdischer Freund hatte keine Ahnung, wie es uns ging. Wir hatten weder Kanalisation noch Telefon und das Wasser floss bloss einmal pro Woche. Wir Palästinenser konnten uns nicht vorstellen, warum sie solche Angst vor uns haben sollten. Denn sie verfügten über die Waffen!“

Herkunft und Erziehung halten getrennt

Musalaha bringt die Leute zusammen, „dass sie miteinander reden und merken, wieviel sie gemeinsam haben“, sagt Tanas, der Treffen organisiert. Auch in Jerusalem, wo kein Checkpoint den arabischen Osten von den jüdischen Stadtteilen trennt, leben die Völker getrennt. „Es gibt eine mentale Barriere. Sogar wenn Kontakt möglich ist, halten Herkunft und Erziehung uns voneinander fern.“

Maram (19) kann vom arabischen Ostteil Jerusalems, wo sie lebt, für Einkäufe nach Westjerusalem fahren. „Mit Israelis sprach ich nicht. Ich entstamme einem Milieu, in dem sie als unsere Feinde gelten. Musalaha hat mir Mut gemacht, mit ihnen zu reden.“ Die Ost-Jerusalemer sind laut Tanas irgendwo in der Mitte. Sie haben zwar israelische Identitätskarten (eigentlich Aufenthaltsgenehmigungen), aber nicht die Bürgerrechte der anderen Israeli, Araber und Beduinen inbegriffen.

Englisch zur Verschleierung

Shadias Mutter hat eine langjährige jüdische Freundin bei Tel Aviv. „Als wir bei ihr spazierten, sagte sie mir, ich solle englisch reden, nicht arabisch. Sie wollte Problemen aus dem Weg gehen.“ Tanas verweist auf die Problematik von Ehen: „Würde ich als Palästinenser von der Westbank eine (arabische) Ost-Jerusalemerin heiraten – wo würden wir leben? Ich könnte nicht zu ihr ziehen; sie würde bei mir ihre israelischen Papiere aufs Spiel setzen.“

Wenn die Israeli von der 7. bis zur 9. Klasse Arabisch lernen, haben sie „einen Schimmer vom klassischen Hocharabisch, das niemand spricht“. In der Universität in Bethlehem gibt es einen Ivrit-Kurs (Neu-Hebräisch) – aber den meisten Palästinensern sei das zuwider. Dabei ist Mailen und Telefonieren zwischen Israel und der Westbank kein Problem. (Die Araber im Norden Israels lernen dagegen selbstverständlich Ivrit.)

Wachsender Wunsch nach Frieden

Der Wunsch nach Frieden ist gewachsen, gerade unter Israeli in Jerusalem. Aber damit sei Angst verbunden, äussert Nomi; „in palästinensische Gebiete möchten sie nicht reisen“.

Laut Tanas ist Jerusalem „eine sichere Stadt – wenn man sich in Acht nimmt. Aber natürlich liegt eine Spannung über ihr“.

Evan (17) lebt in Beersheva in der Negev-Wüste. Dort „ärgert man sich über die Beduinen, die einbrechen oder Autos stehlen. Sie haben keinen guten Ruf. Beduinenkinder verursachen oft Unruhe in der Schule. Israeli haben normalerweise keine Beziehungen zu Beduinenkindern.“ Shadia lebte in Haifa, das sich als Modell des Zusammenlebens gibt, in einem jüdischen Quartier. „Eines Abends warfen Unbekannte Benzin an meine Wohnungstür und setzten sie in Brand. Wir sollten wegziehen. Ständig hörten wir rassistisch gefärbte Bemerkungen. In den gemischten Stadtteilen gehen Juden und Palästinener einander im Alltag aus dem Weg. Ich kaufe vielleicht Milch beim Israeli – Freunde sind wir deswegen nicht.“

In der Wüste fallen Schranken

Ein freundliches Wort macht einen grossen Unterschied, bemerkt Tanas. „Doch aufeinander zuzugehen ist nicht einfach. Wir unterscheiden uns in der Kultur, in der Religion, in den Heiligen Büchern.“ Vor diesem Hintergrund findet es Shadia faszinierend, dass in den Camps und Treks von Musalaha mentale Schranken fallen. „Mit meiner Prägung wäre ich nicht imstande, mit Evan zu sprechen. Aber weil ich nun ihn kenne, traue ich mich eher, mit Israeli überhaupt Kontakt zu haben.“

Von anderen Organisationen, die Israeli und Araber in Kontakt bringen (Peace Now, Seeds of Peace), hebt sich Musalaha durch die Ausrichtung auf Jesus ab. „Wenn wir Leute zusammenbringen, wächst eine Verantwortung: Wie können wir als Menschen, die auf Jesus vertrauen, für andere ein Vorbild sein?“ Peace Now mache Treffen ohne Gebet, bemerkt Tanas. Als die zweite Intifada 2000 losbrach, hätten wegen der Meinungsverschiedenheiten viele die Beziehungen abgebrochen, die sie durch Seeds of Peace aufgebaut hätten, sagt Nomi. „Denn sie fühlten sich dabei nicht mehr wohl. Wir sehen im Gegenüber immer noch die Schwester, den Bruder und fühlen uns verpflichtet, der Beziehung Sorge zu tragen.“

Libanonkrieg erschwert Verständigung

In diesem Sommer, mit dem Libanonkrieg und der anhaltenden Gewalt im Gazastreifen, kostete es mehr Mühe, Leute zur Teilnahme an Musalaha-Veranstaltungen zu bewegen. Langwierig gestaltete sich die Vorbereitung eines Frauentreffens. Weil der Sohn einer Freundin im Krieg gefallen war, traute sich eine Frau kaum zu kommen. „Sie fürchtete, von den anderen abgelehnt zu werden. Frauen aus Haifa waren in der Gruppe, die erzählen wollten, wie Gott sie im Raketenbeschuss beschützt hatte, erzählt Shadia. „Dies machte den Anderen Mut. Schliesslich beteten sie alle füreinander – allem Trennenden, allem Schmerzhaften zum Trotz.“

Der Kern des Glaubens bindet zusammen

Die Treffen können nur gelingen, indem die Teilnehmenden einander unterschiedliche Meinungen zugestehen. Und Sprachregelungen: Was den einen die Westbank bzw. Judäa und Samaria, ist den anderen Palästina, bzw. besetztes Gebiet. Darauf darf es nicht ankommen. Tanas: „Wenn du ein Israeli bist, Jesus liebst und zu Versöhnung bereit bist, laden wir dich ein!“ Auf dem letzten Trip konnte sich Nomi mit einer Frau nicht über die Bedeutung von ‚Israel’ einigen. „Aber wir hielten fest, dass wir im Kern des Glaubens zusammengehören.“

Kontakt halten – trotz allem

Wie geschieht in all diesen Spannungen Versöhnung? „Es geht nicht wirklich darum, Unterschiede auszugleichen“, sagt Tanas. Das sei unmöglich. „Es wird immer Differenzen geben. Es kommt darauf an, Leute zusammenzubringen, dass sie einander treffen und von sich reden. Dass sie zweitens Geschichten aus ihrer Welt erzählen. Das Dritte ist die Verantwortung, füreinander im Gebet einzustehen und Kontakt zu halten. Von Zeit zu Zeit nimmst du den Hörer, rufst an und fragst: Hallo, wie geht es dir? Als wir vom Bombenanschlag in Netanya hörten, rief ich meinen Freund dort an und fragte nach, wie es ihm und seiner Umgebung ging. Vielleicht kannst du nicht viel tun, aber Zuhören und ein gutes Wort ist bereits ein Beleg der Versöhnung. Evan kenne ich nun drei oder vier Jahre. Er ist für mich nicht ein Jude, ein Israeli, sondern – ein Freund. Ohne Christus wäre das unmöglich.“

Musalaha-Homepage (englisch) www.musalaha.org
Musalaha-Vertretung in den deutschsprachigen Ländern www.amzi.org

Wüsten-Bilder: Musalaha

Datum: 28.10.2006
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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