Bekannt wurde Ulrich Seidl vor allem mit seinem Film „Hundstage“ (2001). Bei Leuten, die sich in der Filmszene auskennen, gilt der Österreicher als einer der wichtigsten zeitgenössischen Regisseure. Mit dem von ihm als Zwischenprojekt bezeichneten Film „Jesus, du weisst“ gewann der 53-Jährige 2003 diverse Preise. Grund genug für Filmkenner, sich den neusten Film von Seidl anzusehen. Bestimmt machen aber Titel und Thematik auch in evangelischen Reihen auf sich aufmerksam. Denn schliesslich geht es in „Jesus, du weisst“ ums Beten. Während 88 Minuten bekommen wir als Zuschauer Einblick in das Leben von sechs völlig verschiedenen Menschen. Sie alle waren bereit, über einige Zeit ihre Gebete laut und vor laufender Kamera zu sprechen. Wie in Österreich üblich, gehen diese Menschen zum Gebet in die katholische Kirche. Vor der fixierten Kamera innerhalb der hohen Räume scheinen die Personen winzig und schutzlos. Ihre Stimmen verlieren sich, wenn sie ihre Ängste, Sorgen und Bitten äussern. Man spürt: diese Menschen suchen Zuflucht vor den Stürmen des Alltags. Und sie fliehen regelrecht in den Schutz und die Stille der Kirche und des Gebets. Da ist eine Mutter von zwei Kindern. Sie bittet um Heilung für ihren kranken Mann und darum, dass die Verantwortlichen der Fernsehsender bessere Programme zusammenstellen, die ihren Partner positiv beeinflussen könnten. Ein Mann um die 60 möchte seine Beziehung nicht kampflos aufgeben, sieht aber keinen Ausweg aus den Missverständnissen. Er fühlt sich belastet von der eigenen Unzulänglichkeit und den Erinnerungen an seine Kindheit, in der er schwer misshandelt worden war. Ein junger Student bekommt von seinen Eltern kein Verständnis dafür, dass er die Messe besucht und ihm der Glaube wichtig ist. Er leidet darunter und kämpft zusätzlich mit einem niedrigen Selbstwertgefühl, mit Heldenträumen und erotischen Fantasien. Es sind ganz normale Menschen, die da ihre Gebete formulieren. Sie sehnen sich nach einem erfüllten Leben, haben viele offene Fragen und fühlen sich oft einsam, wie kurze Alltagssequenzen zeigen. Einen einzigen, ganz persönlichen Raum des Aufatmens schaffen sie sich mit ihren Gebeten. „Beten ist der intimste Akt, den Menschen tun“, sagt Seidl in einem Interview. Und das ist es wohl, was so eigentümlich berührt und gleichzeitig irritiert: Diese Menschen zeigen ihr Innerstes; ganz Privates wird öffentlich, etwas Heiliges wird verletzlich. Der Regisseur konfrontiert sein Publikum ganz direkt mit der Frage nach Intimität, und dies auf einer Ebene, wo wir noch empfindlich und ansprechbar sind. Ulrich Seidl mahnt mit „Jesus, du weisst“ auf seine Art dazu, das Heilige zu bewahren. Autorin: Damaris Bucher
Ein österreichischer Regisseur macht intimste Gefühle und Anliegen öffentlich. Darf man das?
Schonungslos real
Peinlich oder lächerlich?
Datum: 26.05.2005
Quelle: ideaSpektrum Schweiz