Kirchliche Jugendarbeit in Görlitz: Lernen, dass man wertvoll ist

Görlitz

Die Stadt Görlitz ist eine der schönsten Städte Deutschlands, aber sie hat es schwer. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges lebten 102‘000 Menschen in der Stadt an der Neisse, heute sind es 60‘000. Die Wirtschaft liegt am Boden, noch immer ziehen Menschen weg. 1997 gründete die Evangelische Kirche der schlesischen Oberlausitz den Verein der Evangelischen Stadtjugendarbeit Görlitz. Es entstanden Schülercafes, Jugendclubs und der Lebenshof. Dort arbeiten Jugendliche, für die auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Chance besteht.

In Ludwigsdorf, einem Ortsteil von Görlitz, trifft sich jeden Tag eine ungewöhnliche Gruppe: Jugendliche ohne Ausbildung oder Schulabschluss, arbeitslose Maler und Lackierer und eine alleinerziehende Mutter. Ihr Treffpunkt ist der Lebenshof, ein Bauernhof, der von der Evangelischen Stadtjugendarbeit in Görlitz gekauft wurde. Nicht alle von ihnen sind freiwillig da. Drei sind Schulverweigerer, sechs wurden vom Arbeitsamt für eine einjährige Arbeitsbeschaffungsmassnahme (ABM) geschickt, zwei Teilnehmer machen ein Freiwilliges Ökologisches Jahr, vier sind Sozialhilfeempfänger, für die der Lebenshof eine berufsvorbereitende Massnahme sein soll.

Der Arbeitstag beginnt mit gemeinsamem Kaffeetrinken und für die Raucher mit einer Zigarette vor der Tür. Eine Gruppe arbeitet draussen am Umbau der Scheune, die andere bleibt drinnen am grossen Esstisch. Die Tassen werden abgeräumt, dafür kommen Gipsplatten und Tonmasse auf den Tisch. Es werden Vasen, Töpfe, Kerzenständer und Eierbecher im Hundertwasser-Stil gefertigt. Es ist still im Raum, nur wenn jemand den Ton breitklopft, wird es mal laut.

Jeden Tag ein warmes Essen

Zu den Teilnehmern gehört auch ein Geschwisterpaar. Kai ist 24 Jahre alt, seine Schwester Isabel 21. Von den anderen werden sie “Brüderchen und Schwesterchen” genannt. Seine Malerlehre hat Kai abgebrochen. “Es lag am Ausbilder”, sagt er. Seine Schwester hat mit der Abschlussnote 1,4 die Schule verlassen, wollte sogar mal Abitur machen und dann studieren. Irgendwie hat sie den Sprung ins Berufsleben verpasst. “Ich habe alles mal begonnen und dann wieder abgebrochen”, sagt sie und kann es sich selbst nicht erklären. Erst schmiss sie die Lehre als Kellnerin, dann zwei Weiterbildungsmassnahmen. Zuletzt bezog sie Sozialhilfe, nun arbeitet sie beim Lebenshof. “Diesmal muss ich es zu Ende machen”, sagt Isabel. Nach einem Jahr ABM gibt es wieder Arbeitslosengeld.

Einmal in der Woche gibt es eine Andacht. “Wir wollen den Leuten die Bibel vertraut machen”, sagt die Leiterin des Lebenshofes, Kathleen Siekierka. Oft lächelten die Teilnehmer über die Geschichten, aber sie seien wenigstens interessiert. Sie sei immer wieder überrascht, wie wenig Grundwissen die Leute hätten. “Manche haben noch nicht einmal etwas von den Zehn Geboten gehört.”

Etwas Sinnvolles machen

Der Lebenshof bietet Abwechslung und das Gefühl, etwas Sinnvolles zu machen. “Man wird blöde zu Hause”, sagt einer der Teilnehmer. Zum Lebenshof geht er gerne. “Jeden Tag gibt es ein schönes warmes Mutti-Essen, das ist schon nicht schlecht.” Einer hilft sogar freiwillig weiter, nachdem sein ABM-Jahr ausgelaufen ist. Zu Hause gab es nichts zu tun. Regelmässige Teilnahme ist keine Selbstverständlichkeit. Die Arbeit beginnt bereits morgens um sieben, und schon das frühe Aufstehen ist für manchen eine unüberwindbare Hürde. “Manche haben es einfach nicht gelernt zu arbeiten”, sagt Kathleen Siekierka. Sie ist 25 und damit genauso alt wie einige der Teilnehmer. Sie ist eine schlanke, zarte Frau mit zwei lustigen Zöpfen. Kann sie sich durchsetzen? “Die Jungs denken sich, ‚das Mädele‘ wird schon nicht schimpfen’”. Da irren sie sich. Siekierka kann hart sein. Fehlstunden lässt sie am Wochenende nacharbeiten, oder sie kürzt das Taschengeld.

Verschläfer aus dem Bett geklingelt

Einer ist heute nicht gekommen, Siekierka ruft bei ihm zu Hause an. Der Bummelant verspricht, mit dem nächsten Bus um halb zehn zu kommen, hält sein Versprechen aber nicht. Manchmal fährt Siekierka zu den Wohnungen und klingelt ihre Leute aus dem Bett. Sie ist geduldig. “Man kann nicht erwarten, dass jemand nach mehreren Jahren ungeregelten Lebens pünktlich zur Arbeit kommt.” Siekierkas Ziele sind zunächst bescheiden: Dass, wer nicht kommt, eine Krankmeldung braucht, dass man sie auch rechtzeitig abgeben muss und zuletzt, dass man sich nicht ohne Grund krankschreiben lässt.

Bauanleiter Hans-Jörg Heuthe zeigt den Teilnehmern, wie man mauert und malert. Die Scheune nebenan wird zur Zeit umgebaut. Schulungsräume, Küche, Speisesaal und Büro sollen hier entstehen. Und auf dem Hof werden bis zum Sommer eine Holz-, eine Metall- und eine Keramikwerkstatt gebaut, später soll noch ein Laden dazukommen, in dem eigene Erzeugnisse verkauft werden. Bei Ergotherapeutin Corinna Simmank lernen die jungen Leute, wie man ein Mittagessen kocht, Kirschen und Pflaumen einweckt und die Wiesen, Beete und den Bach vor dem Haus pflegt.

Eher Geld für alte Steine

Finanziert wird der Lebenshof von Spenden, Stiftungen und Fördergeldern. Auch die Stadt beteiligt sich, aber jedes Jahr muss der Lebenshof erneut um Zuschüsse bangen. “Es ist leichter Geld für alte Steine zu bekommen als für junge Menschen”, sagt der Görlitzer evangelische Superintendent Jan von Campenhausen.

Dass die Jugendlichen nach einem Jahr auf dem Lebenshof Arbeit finden, ist unwahrscheinlich. Eine Stadt mit über 20 Prozent Arbeitslosigkeit wartet nicht auf ungelernte Hilfskräfte. Dennoch findet Siekierka das Projekt wichtig. “Wenn die Jugendlichen alles andere nicht lernen, dann wenigstens, dass sie wertvoll sind.”

Datum: 14.02.2003
Quelle: idea Deutschland

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