Christen im Schatten des Islam (4): Die Scharia gilt – nicht überall und nicht allein

Die Wiedereinführung von Regelungen der Scharia, des alten islamischen Gesetzes, steht oben auf der Agenda vieler islamistischer Gruppen. Welche Rolle spielt die Scharia im arabischen Raum? Andreas Kaplony, Assistenzprofessor für Islamwissenschaften an der Uni Zürich, erläutert, wie die Scharia entstanden ist, wie sie angepasst wird und welcher Strafe die Abwendung vom Islam unterliegt.
Scharia: Andreas Kaplony
Schiiten im Iran
Moschee im Ägypten
Maronitische Christen

Livenet: Die Scharia, das von den Gelehrten seit mehr als 1200 Jahren erarbeitete islamische Gesetz, bezieht sich auf das Vorbild Mohammeds. Was von ihm überliefert wurde, gossen sie in Vorschriften. Wie ging das zu?
Andreas Kaplony: Die muslimischen Gelehrten haben selbstverständlich den Anspruch, dass sie das Rechtssystem aus dem Koran und andererseits aus der Sunna, dem Gewohnheitsrecht nach dem Vorbild von Mohammed, aufgebaut haben. Durch jahrzehntelanges Überlegen und Diskutieren, Verwerfen und Verfeinern entstand im 8. und 9. Jahrhundert ein Rechtssystem. Abgeschlossen ist es nicht. Die Scharia ist daher nicht als Buch zu haben; die Diskussion über Anpassungen hält auch heute an, obwohl wir dies kaum wahrnehmen.

Wir können dieses System mit einer Gelehrtenrepublik vergleichen. Wie unter Wissenschaftlern eine Meinung sich durchsetzt, eine andere nicht, so hat sich in diesem riesigen Gebilde von Meinungen und Gegenmeinungen das Geltende allmählich herausgestellt. Gewisse Meinungen sind unter den Gelehrten populärer, andere weniger populär. Aber ein Gelehrter greift auf das alte Material zurück.

Sunniten und schiitische Perser behandeln die Tradition unterschiedlich; ich komme noch darauf zu sprechen. Das Interessante ist, dass es ähnlich wie in der jüdischen Tradition immer mehrere Meinungen nebeneinander gab. Niemand sagt letztgültige Wahrheit; das Eine mag sich durchsetzen, das Andere nicht.

Die gesamte Literatur, kaum überblickbar, wird heute noch herangezogen. Laufmeter um Laufmeter von Büchern. Ein guter Gelehrter muss sie zum grossen Teil im Kopf haben – eine gewaltige Sache. Das Rechtsdenken wird in fünf grossen (neben vielen kleineren) Denkschulen gepflegt: Die Gelehrten der führenden Azhar-Moschee in Kairo haben vor drei Jahrzehnten die Zwölfer-Schiiten des Iran als fünfte Rechtsschule (neben den vier sunnitischen) anerkannt.

Das heisst auch, dass absonderliche Meinungen aus längst vergangener Zeit neben den Mehrheitsmeinungen weiter bestehen können, so dass nie eine endgültige Antwort kriegt, wer Gelehrte befragt?
Ja, ganz Seltsames steht gegen allgemein Akzeptiertes, wird noch mitbedacht, kann übernommen oder eben abgelehnt werden. Auch die grossen Scheichs der Azhar haben theoretisch nicht mehr Macht als ein unbekannter Gelehrter – sie sind natürlich meist brillanter und umfassender gebildet.

Kaum war der französische Innenminister Sarkozy vor einem Jahr aus Kairo abgereist, sah man Gelehrte der Azhar-Moschee an einem grossen Tisch heftig Einspruch erheben gegen die Stellungnahme ihres Grossscheichs Tantawi, der befunden hatte, Frankreich dürfe das Kopftuch den Schülerinnen verbieten…
Da konnte man diesen Prozess unter Gelehrten tatsächlich wahrnehmen. Das islamische Recht der Scharia enthält Vorschriften zu allen Lebensbereichen; es orientiert sich an der Praxis, weil es sich da durchsetzen muss. Im sunnitischen Islam können eigentlich alle Muslime mitreden, wobei natürlich nur die Gelehrten mit der Überlieferung und den Argumenten vertraut sind.

Im Iran, wo Schiiten an der Macht sind, können nicht einmal alle Gelehrten über die weitere Ausformung und Anwendung des Gesetzes diskutieren, sondern nur eine Gruppe, die Mudschahedin. Die einfachen Gläubigen und die niedrigen Gelehrten hängen sich einem der ganz Grossen an, um ihn nachzuahmen (taqlid). Khomeiny war einer dieser eminenten Gelehrten, denen man nachfolgt.

Ein weiterer Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten besteht darin, dass die Sunniten beim Regelwerk die ganze Überlieferung mitdenken müssen. Wenn also jemand im 10. Jahrhundert etwas geäussert hat, ist das heute erheblich. Die Schiiten dagegen nehmen, was damals gesagt wurde, bloss als Anregung; es zählt nur die Lehrmeinung der lebenden Gelehrten. Das heisst, die Schiiten sind viel flexibler; sie können sagen: Das war im 10. Jahrhundert richtig, heute ist es absolut unbrauchbar – was den Sunniten nicht erlaubt ist.

Worauf gründet die Scharia?
Die Wurzeln der Scharia sind: erstens der Koran, zweitens das Vorbild von Mohammed (die Sunna), drittens dass man Parallelen zieht und viertens – wenn all dies nicht hilft – die Übereinstimmung aller Gelehrten. Wenn sich die Gelehrten einer Zeit einig sind, wird es nach Meinung der Muslime schon richtig sein.

Dann gibt es je nach Land ein Gewohnheitsrecht ausserhalb der Scharia und parallel zu ihr, das auch kodifiziert wurde. Als drittes kommt das westliche Recht hinzu. In allen islamischen Ländern, abgesehen von Saudi-Arabien, gibt es heute ein Mischrecht. In der Türkei gilt im Prinzip allein das westliche, von Atatürk eingeführte Recht.

So macht es wenig Sinn, wenn wir festhalten, was das islamische Recht zu dem und dem Thema sagt. Nur in bestimmten, wohl definierten Bereichen ist es gültig. Wenn die Gerichte in Ägypten einen Fall entscheiden, halten sie sich in den seltensten Fällen an das islamische Recht, sondern an das staatliche Recht, das westlichen Einflüssen unterliegt. Ob ein Kind, das von seinem Vater nach Ägypten entführt worden ist, während die Mutter in der Schweiz bleibt, zurückkommt oder nicht, wird nach staatlichem Recht beurteilt.

In unseren Medien stehen Scharia-Strafen wie das Handabhacken bei Diebstahl, die Fussamputation bei rückfälligen Dieben oder die in Nordnigeria verhängte Steinigung bei Ehebruch im Vordergrund. Sind das authentische Auslegungen der Scharia?
Im sunnitischen Recht ist - nicht aufgrund des Korans, sondern aufgrund der Sunna, der Überlieferung - bei Ehebruch eines muhsan (einer erwachsenen, freien, muslimischen Person, die vorher in einer Ehe erlaubte sexuelle Beziehungen gehabt hat) Steinigung vorgeschrieben. Bei einem freiem nicht-muhsan sind 100 Peitschenhiebe, bei einem unfreien nicht-muhsam 50 Peitschenhiebe vorgeschrieben.

All dies betrifft nur Personen, die bei freiem Willen Geschlechtsverkehr gehabt haben, also nicht etwa eine vergewaltigte Frau. In letzter Zeit ist die Steinigung nur in Saudi-Arabien durchgefuehrt worden. Dort herrscht die muslimische Sondergruppe der Wahhabiten, eine moderne Bewegung, die mittelalterliche Gedanken mit modernen Mitteln durchzusetzen sucht. Zu Nigeria kann ich nichts Näheres sagen. In Ägypten kennt das staatliche Recht die erwähnten brutalen Körperstrafen nicht.

Islamismus wird vom bekannten Islam-Lehrer Tariq Ramadan bezeichnet als vielfältige Bewegung jener, die die konsequente politische und soziale Umsetzung islamischer Normen jetzt anstreben. Wo ziehen Sie die Grenze zwischen Islamisten und Muslimen im Allgemeinen?
Wahrscheinlich ist die Unterscheidung Muslim-Islamist weniger abhängig von dem, den sie trifft, als von dem, der sie trifft. Ich habe häufig den Eindruck: Die Guten sind Muslime; die Bösen sind Islamisten – wir ziehen im Westen die Grenze nach unserer (groben) Wahrnehmung. Dabei gibt es ganz unterschiedliche Gruppen im Übergangsbereich – und somit viel mehr Ausprägungen islamischer Gesetzestreue, als wir denken.

Zurück zum Status der Christen: Die Scharia begünstigt den Übertritt zum Islam, während sie den Religionswechsel (Konversion) vom Islam zum Christentum verbietet.
Nach der Scharia kann selbstverständlich ein Christ den Islam annehmen, aber dass ein Muslim den christlichen Glauben annimmt, wird als Abfall gewertet, in der Meinung, dass doch niemand wahnsinnig ist und etwas Derartiges tut (da nach islamischer Grundüberzeugung Mohammed alle vorangegangenen Offenbarungen ersetzt und die ursprüngliche Menschheitsreligion wiederhergestellt hat).

Gemäss islamischem Recht – wieder nicht aufgrund des Korans, sondern aufgrund der Sunna – müssen männliche Konvertiten vom Islam weg mit dem Tod bestraft werden. Weibliche Konvertiten vom Islam weg müssen nach den einen Rechtsschulen ebenfalls getötet werden. Nach den anderen Rechtsschulen müssen sie solange gefangengehalten werden, bis sie den Islam wieder annehmen. In früher osmanischen Gebieten ist die Todesstrafe auf Abfall (Apostasie) seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ausser Gebrauch geraten; stattdessen sind die Apostaten "vogelfrei", das heisst, wenn sie ermordet werden, werden die Mörder nicht bestraft.

Heute hängt die Regelung in den arabischen Staaten vom jeweiligen staatlichen Recht ab, das wie besprochen der Scharia übergeordnet ist. Die Scharia mag noch in besonderen Nischen und Lücken gelten, besonders im Erb- und Familienrecht, aber auch dieses ist (nicht überall gleich) vom staatlichen abhängig.

In den Ländern, die bis zum Ersten Weltkrieg osmanisch waren, heiratet das Paar meistens vor dem Imam, dem Rabbi oder dem Pfarrer, je nach den Regeln der Religionsgemeinschaft. Dies ist beispielsweise auch in Israel noch so.

In Ägypten ist es erlaubt, den Islam zu verlassen, und wie Christen, die islamisch werden, gibt es auch Muslime, die Christen werden, vor allem durch Heirat. In wohlbekannten Fällen hat das Gericht die Abwendung vom Islam an sich geschützt, aber einen offenkundigen Anfall von Geistesverwirrtheit angenommen. Der Mann muss dann von der Frau geschieden werden, da dieser nicht zugemutet werden könne, mit dem Geistesgestörten zusammenzuleben.

Vergessen Sie nicht: Nach islamischem Verständnis ist die Ehe nicht das Verschmelzen, das Einswerden, von zwei Personen, sondern bloss ein Vertrag zwischen zwei Personen, welchen sie auch wieder auflösen können.

In anderen Ländern steht nach staatlichem Recht die Todesstrafe auf Abfall vom Islam. Davon zu unterscheiden ist die Durchsetzung. Wenn die Nachbarschaft von einem Übertritt weiss, aber dieser Schritt nicht öffentlich wird, nicht vors Gericht kommt, mag das durchgehen.

Sie haben bereits früher angesprochen, dass im Islam manches geduldet wird, solange es nicht öffentlich geschieht. Woher kommt das?
Die Unterscheidung zwischen Öffentlichem und Privatem ist wohl alte orientalische Praxis. Früher gab es diesen anderen Umgang mit Privatem und Öffentlichem bei uns auch: Man macht etwas, viele wissen davon, niemand redet darüber. Im Orient ist das ganz wichtig. Es geht nicht um Ehre oder Unehre, sondern um das Mass an Öffentlichkeit. Im Privaten wird vieles zugestanden, was öffentlich nicht geht.

In der Öffentlichkeit wird nicht geküsst; was Leute privat tun, ist ihre Sache. Öffentlich Wein zu trinken ist verpönt; der Muslim jedoch, der zu Hause schwach wird, kommt meist ungeschoren davon. Zu Hause kann man herumlaufen, wie man will; in der Öffentlichkeit macht man sich schön. Die Christen dürfen an vielen Orten Gottesdienst feiern, solange sie kein Aufsehen erregen. Der Kirchenbau anderseits ist sichtbar – und darum vielerorts so stark beschränkt.

Kurz: Der Orient ist in vielem konservativ, auch in dieser Betonung des Zusammenlebens, die der Freiheit des Einzelnen Schranken setzt. Manches ist von dieser konservativen Lebenshaltung her besser zu verstehen als unter rein religiösen Gesichtspunkten.

Eine praktische Frage zum Schluss: Worauf sollten engagierte Christen und Menschenrechtsaktivisten achten, wenn sie sich für benachteiligte und verfolgte Christen im islamischen Raum einsetzen?
Man sollte unterscheiden zwischen den eigenen Interessen (will man möglichst medienwirksam über einen Fall berichten?) und der Situation im Land, um das es geht. Ist vielleicht anderswie mehr zu erreichen? Ich sage nicht, dass es immer richtig ist, auf die Medien als Mittel zur Durchsetzung der eigenen Ziele zu verzichten. Doch am Weitesten kommt nicht immer der, der an die Medien geht. Öffentlichkeit ist nicht immer hilfreich und gut.

Am besten ist es, all die Fragen um Religionswechsel und die Stellung der Frau im weiteren Zusammenhang von Öffentlichkeit und Privatheit, den ich angesprochen habe, zu sehen. Der Orient ist anders. Vieles kann man im privaten Gespräch, auch in einer harten Diskussion, aber eben unter vier Augen besprechen.

Auch in der Schweiz tut ein christlicher Lehrer in der Regel gut daran, muslimische Eltern direkt zu kontaktieren, mit ihnen das offene Gespräch zu suchen, um so Vertrauen aufzubauen.

Die ersten Teile des Gesprächs mit Prof. Andreas Kaplony:
Christen im Schatten des Islam (1): Drei Jahre nach dem 11. September
www.livenet.ch/www/index.php/D/article/161/18465
Christen im Schatten des Islam (2): Fremde Herrscher, Gelehrte und die Scharia
www.livenet.ch/www/index.php/D/article/157/18570/
Christen im Schatten des Islam (3): Ausgrenzung, Vertreibung und Emigration
www.livenet.ch/www/index.php/D/article/157/19031/

Datum: 18.10.2004
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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