Die Terroranschläge vom 11. September 2001 (Bild: Wikipedia /CC BY-SA 2.0)
Die Anschläge auf das World Trade Center
am 11. September 2001 sollten mehr Einheit und einen geistlichen Aufbruch
bringen, hofften viele damals. Heute ist Ernüchterung da.
«Die Zeit direkt nach den Anschlägen
war eine seltsame Zeit voller Angst, aber es war auch eine Zeit der Hoffnung»,
erinnert sich der einflussreiche Evangelikale und Autor Philip Yancey an die
Zeit nach 9/11 in den USA. «Unser Blick auf unser Land, unsere Gesellschaft und
uns selbst änderte sich an diesem Morgen gewaltig. Wir lebten auf einmal in
ständiger Erwartung des Todes; viele wurden sich bewusst, dass sie ihr Leben
mit Trivialitäten anfüllten, und es zwang uns, unsere geistlichen Wurzeln zu
suchen.»
Überall wurde von Einheit
geredet. Die Kirchen waren voll, und christliche Leiter sagten eine nationale
Erweckung voraus. Präsident Bush rühmte die Amerikaner in einer Rede von 2001
für ihren Anstand, ihre Freundlichkeit und ihr Eintreten füreinander. «Heute,
20 Jahre später und gerade aus Afghanistan abgezogen, sollten wir uns fragen: Haben sich diese Hoffnungen erfüllt?», fragt ein nachdenklicher Artikel der
Kolumnistin Bonnie Kristian in «Christianity Today».
Weder
Einheit …
Schon ein flüchtiger Blick auf
die Geschichte zeigt, dass heute alles andere als Einheit die US-Gesellschaft
definiert. Im Gegenteil: Die gesellschaftlichen, sozialen und politischen
Diskussionen sind deutlich härter und bitterer geworden. Polarisierung hat stark
zugenommen, und der politische Diskurs redet heute von Verrat und sogar
Bürgerkrieg.
…
noch Erweckung
Ein paar Wochen lang füllten
die Menschen nach 9/11 die Kirchenbänke, aber es wurde bald klar, dass das
keine «grosse Erweckung oder ein deutlicher Wandel der religiösen Praktiken»
bedeutete, wie etwa Frank M. Newport vom Gallup-Institut in der New York Times im
November 2001 analysierte. Auch das renommierte Barna-Institut hielt in einer
Untersuchung 2006 fest, dass sich keiner von 19 Indikatoren für geistliches Leben
seit 2001 verändert hat: Weder die Glaubensüberzeugungen noch der langfristige
Gottesdienstbesuch, das Gebet oder das Bibellesen haben zugenommen. Im
Gegenteil: In allen messbaren Kriterien ging das religiöse Leben weiter zurück.
YOLO
statt «memento mori»
Schnell wandten die
Amerikaner sich wieder ihren Trivialitäten und ihren Streitigkeiten zu. Sicher,
man war sich seiner Sterblichkeit bewusst, «aber die meisten reagierten darauf
mit dem Leichtsinn von YOLO (You only live once, du lebst nur einmal) statt 'memento
mori' (denke daran, dass du sterben musst)», analysiert «Christianity Today».
Und Barna-Chef David Kinnamann fasst die Untersuchung von 2006 zusammen: «Geistlich
gesehen war es, als wenn nichts geschehen wäre.»
«Kommt von irgendwo ein Lichtlein her»?
Warum führte eine Katastrophe
wie 9/11 nicht zu einer tiefgreifenden Veränderung der Menschen? Bonnie Kristian
führt nicht zuletzt den oberflächlichen Umgang mit biblischen Begriffen auf: «Die
Hoffnung, von der wir redeten, war nicht das christliche Vertrauen auf den
Charakter und die Erlösung Gottes, vielmehr amerikanischer Optimismus,
überzuckert mit dem banalen Spruch, dass auf alles Schlimme wieder Gutes folgt.
Amerikaner glauben, dass 'alles einen Grund hat', dass Leid immer wieder zu
Freude wird; wir zitieren Römer Kapitel 8, Vers 28 (denen, die Gott lieben, dienen alle Dinge
zum Besten) und schliessen fälschlicherweise daraus, dass alles, was uns
passiert, sich eines Tages irgendwie zum Guten kehrt.» Natürlich: «Das stimmt
auf der grossen eschatologischen Skala: eines Tages gibt es keinen Tod und kein
Trauern und kein Schmerz mehr. Aber Gott verspricht nicht, dass das Leben für
uns oder für die Gesellschaft automatisch netter wird; es gibt Böses, das
Jahrhunderte bleibt. Manchmal kommt's einfach nicht gut und es gibt keinen erkennbaren Grund, warum uns etwas
Schlimmes passiert.»
Not
lehrt nicht nur Beten …
… sondern bekanntlich auch
Fluchen. Bonnie Kristian spricht kritisch über die Art und Weise, wie die USA
mit dem Gedenken an 9/11 umgegangen ist. «Wir werden nie vergessen» bedeute für
viele nicht nur Gedenken, sondern sei auch mit Rache und Vergeltung verbunden: «Wenn
wir diesen Zorn über Jahre hinaus pflegen, führt uns das nicht zu
Gerechtigkeit, Liebe und Vergebung, sondern zu Wut, Feindschaft und Bitterkeit
– mit all den Problemen, die das bringt.»
«Leiden hat nicht automatisch
Wachstum oder gute Ergebnisse zur Folge», hält darum Pastor und Autor Tim Keller
fest. «Es hängt alles davon ab, wie wir mit dem Leiden umgehen: Geduld und
Glauben sind entscheidend.» Bonnie Kristian folgert dementsprechend: «Ein paar
Extragottesdienste im Herbst 2001 bedeuten noch nicht, dass man sich auf den langen,
langsamen Weg der Veränderung und Heiligung begibt.»
Sie schliesst dennoch
hoffnungsvoll: «Selbst 20 Jahre nach 9/11 ist es nicht zu spät. Wir können
immer noch friedfertiger und besonnener in unserer Politik werden. Wir können
uns immer noch zu Gott nahen, und er wird sich uns nahen, denn 'jetzt ist der
Tag des Heils'. Wir können immer noch echte Hoffnung lernen – keinen
ahistorischen amerikanischen Optimismus, sondern die echte, gewichtigere
Hoffnung, die durch Beharrlichkeit, Charakter und die Liebe Gottes entsteht.»