Lebendig begraben

Wie Dan Woolley das Erdbeben 2010 auf Haiti überlebte

«Blut und Staub kann ich ausspucken. Die Angst aber bleibt. Begraben unter sechs Stockwerken Schutt – dem, was vom Hotel Montanas übrig geblieben ist –, halte ich mich an der Erkenntnis fest, dass ich ein Erdbeben erlebt habe …»
Knapp vor dem Tod doch noch vom Rettungsteam geborgen: Dan Woolley.
Tagebuchnotiz von Dan Woolley

«Ich habe überlebt! Zugleich bin ich mir dessen bewusst, dass ein Wunder – mehrere Wunder – geschehen müssen, um aus dieser schwarzen Gruft lebendig zu entkommen und jemals wieder meine Familie zu sehen. Und dabei bin ich mir noch nicht einmal sicher, ob ich wirklich an solche Wunder glaube!» 

Es ist der 12. Januar 2010. Dan Woolley ist als Mitarbeiter des Kinderhilfswerkes Compassion in Haiti, um die Arbeit der Entwicklungshelfer für die Spender zu dokumentieren. Haiti ist eines der ärmsten Länder der Welt. Dan Woolley, selbst Vater von zwei Kindern, liegt die Arbeit am Herzen. Über mehrere Tage will er zusammen mit den örtlichen Mitarbeitern Hilfsprojekte um und in der Hauptstadt Port-au-Prince besuchen. 

Für heute ist die Arbeit getan. Kurz vor 17 Uhr wird er mit seinem Kollegen vor dem Hotel Montreal abgesetzt. Als sie die Hotellobby betreten, beginnt die Erde zu beben. Der sechsstöckige Betonbau stürzt über Dan Woolley und seinen Kollegen ein. «Die Wände fielen in sich zusammen, als wären sie zu Brei geworden. Ich glaube, ich hörte das Beben nicht so sehr, als dass ich es in meiner Brust fühlte.» Alles versinkt in einer riesigen Staubwolke, während links und rechts von ihm große Betonbrocken und ganze Betonwände aufschlagen. Unter sechs Stockwerken Beton liegt Woolley begraben in einem Hohlraum. 

Eine Kamera als Rettung

Der Staub ist so dicht, dass er denkt, er sei erblindet. Er stellt fest, dass er aus einer Wunde am Kopf stark blutet. Die viel größere und gefährlichere Wunde am Bein – scharfe Betonbrocken haben es bis auf die Knochen aufgeschnitten –, nimmt er erst viel später wahr, als der Schmerz einsetzt. Da entdeckt er seine Kamera, die ihm noch um den Hals hängt. 

Als er das Licht des Displays sieht, ist die Erleichterung groß: Er kann sehen. Gleichzeitig weiß er: Kein Licht dringt in die Höhle, in der er liegt. Woolley versucht trotzdem, sich zu orientieren. Er fotografiert mit seiner Kamera in verschiedene Richtungen und schaut sich dann die Bilder auf seinem Display an. Dabei entdeckt er die offene Tür eines Fahrstuhls. 

Als die Erde erneut zu Beben beginnt – die vielen Nachbeben erreichen Stärken über 5 auf der Messscala –, kriecht er mühsam in den winzigen Fahrstuhl. Der Stahlkasten, groß wie eine Duschkabine, schützt ihn vor den nun erneut herabstürzenden Betonbrocken. «Gott ist meine Zuflucht und Stärke, ein bewährter Helfer in Zeiten der Not.» Woolley erinnert sich in diesem Moment an diesen Vers aus den Psalmen der Bibel.

Verschüttete Gespräche und Gedanken

Durch Zurufe kann Woolley Kontakt mit anderen Verschütteten aufnehmen. Nach einigen Stunden zu einem Haitianer im Nachbaraufzug, und auch in einem nahegelegenen Hohlraum scheinen Menschen, teilweise unter Trümmern eingeklemmt, überlebt zu haben. «Wir sind zu fünft … in einer kleinen Lücke gefangen, die knapp einen Meter hoch ist … Wir fürchten, uns könnte bald die Luft knapp werden.» 

Auch Woolley ist mitgenommen. Nur mühsam kann er die Gespräche aufrecht erhalten – in dem Wissen, dass der schlimmste Feind das Einschlafen sein kann, ein Hinüberdämmern in den Tod. So nahe am Tod spricht man über das, was man sonst gern ausklammert. Den Sinn des Lebens, über Gott. 

Woolley reflektiert sein Leben und erkennt, dass «im Kern meines Seins» etwas «aus dem Gleichgewicht geraten» war. Sein christlicher Glaube, der sein Leben lange Jahre geprägt hatte, war ihm irgendwann ziemlich verloren gegangen. «Wie weit weg war ich nun von der Person, die ich einmal gewesen war?» 

Neues Vertrauen und Enttäuschungen

Woolley macht das, was lange Zeit nicht mehr zu seinem Alltag gehörte: «Ich betete.» Und plötzlich seien ein tiefer Friede und eine innere Ruhe über ihn gekommen: «Ich wusste auf einmal, dass Gott meine Zukunft in seiner Hand hielt, ob im Himmel oder auf Erden.»

Doch sein Vertrauen wird auf eine harte Probe gestellt. Nach langer Zeit dringen erstmals Geräusche von der Außenwelt an Woolley heran. Er hört Helikopter. Dann kann eine verschüttete Person Kontakt mit einem Helfer von außen herstellen. Woolley erfährt es über Zurufe, die von Verschüttetem zu Verschüttetem weitergeleitet werden. 

Der Helfer verspricht, Hilfe zu holen. Doch Stunden vergehen. «Die Rettungskräfte sind nicht zurückgekehrt. Wahrscheinlich ist die Rettungsaktion zu schwierig, wo es so viele andere, leichter zu lindernde Nöte gibt», schreibt Woolley ohne Licht in sein Notizbuch, das er in der Jackentasche gefunden hat. 

Seit dem Beben sind vierundzwanzig Stunden vergangen. Sein Durst ist unerträglich. Woolley überwindet sich, von seinem eigenen Urin zu trinken. Diesen Überlebenstrick hatte er irgendwo einmal gelesen. «Es war der Versuch, länger am Leben zu bleiben …»

Dem Tod nahe

Wohl über dreißig Stunden sind vergangen, als Woolley erneut Rettungsarbeiten wahrnimmt. Die Verletzten aus dem Nachbarbereich werden geborgen. Woolley spricht mühsam mit einem mutmaßlichen Einsatzleiter. Der verspricht die Wiederkehr der Bergungstruppe mit besserer Ausrüstung. 

Tatsächlich arbeiten sich Stunden später wieder Helfer an Woolley heran. Nur noch eine große Betonplatte trennen die Helfer und Woolley voneinander. Doch dann hört Woolley das Teamgespräch mit: «Wir können uns nicht um diesen Typen kümmern», und dann den Zuruf: «Wir werden Sie nicht holen kommen.» Woolley gibt auf, bricht zusammen, hat Todesvisionen. 

«Hallo, hallo, hören Sie mich?» Stunden später schreckt Woolley auf. Ein anderes Bergungsteam hat sich durch den mehrfach geknickten, instabilen Aufzugschacht vorgearbeitet. Es schneidet die Stahlplatten des Aufzugs auf, birgt die Verschütteten. Drei endlos lange Tage nach dem Erdbeben. 

Heute sagt Woolley, das Erdbeben hat sein Leben geändert. Er weiß sich in Gottes Hand geborgen. Seine Ehe, seine Familie hat einen neuen Wert bekommen. Denn: «wir wissen nicht, wann ein ,Erdbeben‘ in unserem Leben passiert. Ich genieße jeden Moment meines Lebens als kostbares Geschenk, pflege ganz bewusst meine Ehe und lebe meinen Glauben.»

Dan Woolley wird am 20. Januar in Zürich sein und während der vier Gottesdienste im ICF bei Pastor Leo Bigger sprechen.

Datum: 16.01.2013
Autor: Ralf Tibusek
Quelle: jesus.ch/ Augenblick mal

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