Interview

„Wir wollen die dritte Kraft zwischen den Landeskirchen sein“

Anfang Jahr zog sich Sam(uel) Moser altershalber von der Arbeit des Freikirchenverbandes zurück, den er zuletzt präsidierte. Ebenso legte er das Amt des Vorstehers der Missionsgemeinden in jüngere Hände. Damit tritt eine markante Persönlichkeit der Freikirchen in den Hintergrund. Wie stehen die evangelischen Freikirchen heute da? Eine Momentaufnahme von Fritz Herrli. Fritz Herrli: Sam Moser, Sie haben1999 bei Amtsantritt Ihre Ziele für den VFG bekannt gegeben. Sind sie erreicht worden?
Sam Moser übergab sein Amt

Sam Moser: Ich habe damals eine Baustelle angetreten und jetzt eine Baustelle verlassen. In diesen drei Jahren hat der VFG, so glaube ich, an Profil gewonnen. Er hat sich zu Vernehmlassungen geäussert, was er früher weniger getan hat. Da der VFG ein Verband mit 14 Mitglied-Verbänden ist, hat er bei jeder Stellungnahme auch zu prüfen, ob die Basis mitgeht. Meiner Ansicht nach ist der Freikirchenverband vom "Nein-Sager-Image" weggekommen, das ihm früher nachgesagt wurde.

Inwiefern hat der VFG jetzt mehr Profil? Wird er jetzt von aussen anders gesehen?
Wir werden bei den Bundesbehörden besser wahrgenommen. Aufgrund unseres Begehrens bei der Bundeskanzlei werden wir bei Vernehmlassungen miteinbezogen.

Ein Beispiel?
Ein Meilenstein war die Stellungnahme zum Sektenbericht der Geschäftsprüfungskommission. Zusammen mit der Evangelischen Allianz haben wir eine ausführliche Stellungnahme geschrieben dahingehend, dass der Bund in Sektenfragen nicht aktiv werden sollte. Die nationalrätliche Kommission beharrte dann darauf, dass Handlungsbedarf sei und versandte Bericht und Stellungnahmen an die Kantone. Aus deren Reaktionen, die wir im Einzelnen zwar nicht gesehen haben, und aus dem bundesrätlichen Bericht war dann aber zu entnehmen, dass man auf höchster Ebene weitgehend die Argumentation unserer Stellungnahme übernahm.

Eines Ihrer Ziele war, dass die Freikirchen vom Sektenimage wegkommen sollten. Ist das gelungen?
Ich würde sagen, auf behördlicher und politischer sowie auf kirchlicher Ebene haben sich die Freikirchen weitgehend vom Sektenimage lösen können. Nachholbedarf haben wir noch auf gesellschaftlicher Ebene, in den Medien etwa, wo der Unterschied zwischen Sekten und Freikirchen noch zu wenig gemacht wird.

Der VFG will kirchenpolitisch die dritte Kraft im Lande sein. Ist er das? Die Muslime sind ja längst stärker als die Freikirchen.
Wir wollen nicht die dritte religiöse Kraft sein, sondern eine dritte Kraft zwischen den Landeskirchen. Das sind wir als drittgrösste christliche Kraft in der Schweiz auch. Wobei man realistisch feststellen muss, dass der VFG nur einen Teil dieser dritten Kraft repräsentiert. In der Deutschschweiz fehlt von den grossen Gemeinschaften zum Beispiel der Evangelische Brüderverein. Die Mehrheit der frankophonen Freikirchen ist in der FREOE (Féderation Romande des Eglises et Oeuvres Evangéliques) organisiert..

Ist diese dritte Kraft gewichtig genug?
Ja, wenn sie gemeinsam auftreten. Die Freikirchen haben in Politik und Gesellschaft nur eine Chance, wenn sie mit einer Stimme reden. Natürlich gibt es auch eine geistliche Ebene, die Voraussetzung dafür ist. Ich bin mit dem Eindruck aus dem VFG ausgeschieden, dass es auf einer geistlichen Ebene in den letzten Jahren ein Zusammenwachsen gegeben hat, was ich als ausserordentlich wichtig und beglückend empfinde. Gebet und Erfahrungsaustausch haben in unseren Zusammenkünften als VFG grosses Gewicht erhalten. Ebenso ein neues Nachdenken über Evangelisation. Daraus formt sich diese dritte Kraft.

Erstmals sind an der Expo (durch den Druck der Direktion nicht ganz freiwillig) alle Kirchen gemeinsam aufgetreten – auch die Freikirchen. Wie haben Sie das als deren Vertreter erlebt?
Das war für mich eine hochinteressante Erfahrung. Ich habe zwar eine Minderheit vertreten und musste oft unbequem sein. Dennoch habe ich keine schlaflosen Nächte deswegen verbracht und hatte Freude an dieser Arbeit. Beim Pfingst-Event mit dem Chorsingen haben die Freikirchen mit grosser Freude mitgewirkt. Auch hinter dem Bettag mit dem sozial-diakonischen Anliegen standen sie. Ausgeklinkt hat sich der VFG aus dem Projekt "Un ange passe", weil ihm zentrale christliche Inhalte wie Kreuz und Auferstehung gefehlt haben.

Gab es kritische Fragen an der Basis zum Mittun in diesem Kreis der Kirchen?
Eigentlich kaum. Es gab Rückfragen, aber keine vernichtende Kritik. Ich habe keine persönlichen Angriffe erlebt, weil ich mitarbeitete. Meines Wissens ist wegen dem VFG-Engagement auch niemand aus einer Freikirche ausgetreten. Dass es von Einzelpersonen auch sehr destruktive Kritik am Auftritt der Kirchen an der Expo gab, ist bekannt. Diese fand aber nicht im Rahmen des VFG statt.

Hat diese Erfahrung etwas geändert in der Begegnung mit den Katholiken?
Man muss hier unterscheiden: Mit dem einzelnen Katholiken gehe ich um, wie mit jedem anderen Menschen. Was den Glauben anbetrifft, habe ich meine Überzeugung zu vertreten. Umgekehrt hat jeder Mensch das Recht, das Evangelium zu hören. Auf der institutionellen Ebene kann ich mir nicht vorstellen, dass es je eine Zusammenarbeit zwischen der katholischen Kirche und den evangelischen Freikirchen geben wird. Da muss man ja nur das Papier "Dominus Iesus" lesen. Was im zweiten Teil dieses Dokumentes (im Abschnitt über das Kirchenverständnis, Red.) ausgesagt wird, macht deutlich, dass weder seitens der katholischen Kirchen noch unsererseits eine Zusammenarbeit wünschbar ist. Da sehe ich auch keinen Nutzen für irgendwelche offiziellen Gespräche.

Anders sieht es auf der politischen Ebene aus: Was christliche Lebenswerte, wie etwa jene des ungeborenen Lebens, anbetrifft, da kann ein Zusammenstehen auch mit katholischen Gruppen durchaus sinnvoll sein. Da dürfen wir froh sein um alle, die biblische Werte vertreten, wer immer sie sind.

Warum macht der VFG im Gremium zum offiziellen "Jahr der Bibel" nicht mit? Die Bibel ist doch eines Ihrer "Kerngeschäfte".
Wir haben spät davon erfahren. Einige der Freikirchen sind Mitglieder der Bibelgesellschaft, die das "Jahr der Bibel" mitverantwortet, und deshalb mit dabei. Vom VFG wären auch finanzielle Mittel erwartet worden, die schlicht nicht vorhanden waren. Ideell stehen wir aber hinter dem "Jahr der Bibel". Uns ist nicht nur die Verbreitung der Bibel wichtig. Wir wollen den Akzent auf das "gepredigte Wort Gottes" setzen. Im Weiteren begrüssen wir die Verteilzeitung der SEA.

Die Landeskirchen schwinden. Gewinnen die Freikirchen dadurch an Terrain?
Auch bei uns gibt es den Trend, dass Leute sich nicht mehr institutionell binden wollen und dadurch zur Entstehung einer Art Subkultur beitragen. Anderseits kommt nicht zuletzt von der Jugend her, teilweise auch aus der freikirchlichen Jugendarbeit, ein neuer Ernst, das Leben nach der Bibel ausrichten zu wollen. Solche geistlichen Aufbrüche freuen mich und es ist zu hoffen, dass sie in gute Bahnen gelenkt werden.

Trotzdem wachsen die Freikirchen insgesamt nicht. Warum?
Wir leben schon in einer Zeit grosser Verunsicherung. Da gibt es zwei unterschiedliche Reaktionen: Die einen ziehen sich völlig zurück. Wir sprechen von einer neokonservativen Bewegung, die sich in Hauskreisen und unabhängigen Gemeinden formiert. Auf der andern Seite gibt es Gruppierungen, die sich stark an den Zeitgeist anpassen. Wenn eine Gemeinde nun in die eine oder andere Richtung abdriftet, verliert sie Mitglieder. Ich beobachte, dass Gemeinden mit einem guten biblischen Kurs und einer verständlichen Sprache durchaus wachsen. Die gesunde Mitte in der Lehre ist gefragt, wo man sich gegen die Verflachung, aber auch gegen die Überbetonung der Tradition abgrenzt.

Woran leiden die Gemeinden am meisten?
Viele freikirchliche Gemeinden schmoren im eigenen Saft. Dabei geraten sie von einem Konflikt in den andern, was ihnen jede Freude und jeden Mut nimmt. Leider haben viele aufgehört, kirchenferne Menschen mit dem Evangelium zu erreichen. Das ist das Problem. Der Blick nach aussen fehlt. Sobald wieder evangelisiert wird und neue Leute zum Glauben an Christus und den Weg in die Gemeinde finden, gesundet die Gemeinde. Neues Glaubensleben, quasi "Baby-Geschrei", ist das Beste für das Wachstum einer Gemeinde.

Wie sieht Ihre Traumgemeinde aus?
Mir bedeutet die Bibel sehr viel, weil ich praktisch allein durch das Lesen der Bibel zum Glauben gefunden habe. Für mich ist sie der Kompass für das Leben. Deshalb träume ich von Gemeinden mit klar biblischer Wortverkündigung, in der nicht nur ein paar Spezialitäten aus der Bibel verabreicht werden. Der ganze Ratschluss Gottes mit seinem unendlichen Reichtum wird verkündigt. Und dies so stark, dass die Menschen das Verlangen bekommen, die Bibel selbst zu lesen. Das ist das Zentrale. Alles andere ist nicht unwichtig, aber Zugabe: Musik, Anbetungszeit und Moderation sollen dazu beitragen, dass der Zuhörer auf das Zentrale hingeführt wird.

Was machte Ihnen in Ihrer Amtszeit am meisten zu schaffen?
Ungelöste Konflikte in Gemeinden. Das ist nicht nur Ärger, sondern ein Trauerspiel. Immer mehr hat mir zugesetzt, wenn Menschen in den Gemeinden oft wegen Lappalien streiten, lieblos und pharisäisch kritisieren. Wir haben zu viele falsche Wächter und falsche Propheten, aber zu wenig Väter und Lehrer.

Was war die grösste Freude?
Die Freude überwiegt – trotz allem! Für mich ist es etwas vom Schönsten, an einem Sonntagmorgen irgendwo auf einer Kanzel zu stehen. Schön ist auch zu erleben, wie Menschen durch die Verkündigung des Wortes Gottes den Weg zu Christus finden oder durch Seelsorge wieder zurechtkommen.

Sam Moser, 67, wuchs in Kreisen des evangelischen Brüdervereins auf. Als junger Mann warf er den Glauben über Bord. Durch schwere Krankheit und das Lesen der Bibel fand er später eine Beziehung zu Christus und engagierte sich zeitlebens ehrenamtlich in den Freien Missionsgemeinden, deren Vorsteher er seit 1986 war. Beruflich machte er Karriere beim Bund, wo er sich 1997 als stellvertretender Oberzolldirektor frühzeitig pensionieren liess. Drei Jahre amtete er zuletzt als Präsident des Verbandes evangelischer Freikirchen und Gemeinden der Schweiz.

Datum: 13.03.2003
Quelle: idea Schweiz

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