Unbequeme Entscheidung

Weils sie mutig war, durfte sie nicht mehr Hebamme sein...

Für Myriam Häfliger war klar: Bei Abtreibungen machte sie nicht mit. Wegen ihrer ethischen Überzeugung verlor sie ihre Stelle als Hebamme.

Der Entscheid der Gebärsaal-Leitung war unmissverständlich: "Wir wollen nur noch eine Gruppe von Hebammen. Wer bei Abtreibungen nicht mitmacht, muss gehen." Myriam Häfliger gehörte zu denen, die Abtreibungen nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten. Mit sechs Kolleginnen reichte sie die Kündigung ein.
Heute wird sie manchmal bewundert für den Mut, ihrer ethischen Überzeugung ihren Arbeitsplatz geopfert zu haben - etwas nicht Alltägliches in einem Land, das sich als Hort der Gewissensfreiheit sieht. Doch damals, 1994, empfand sie sich nicht als mutig - im Gegenteil: "Ich stellte mich stark in Frage." Nicht, weil sie gezweifelt hätte, dass Abtreibungen falsch sind. Mühe machte ihr, dass sie im Hebammen-Team einen Konflikt provozierte. Diesen Konflikt auszuhalten, fiel ihr schwer: "Ich hatte ein starkes Bedürfnis, verstanden zu werden."

Abtreibung im Gebärsaal

"Noch ein bisschen Tee?" Aus dem gusseisernen Krug schenkt sie Grüntee nach. Auf dem Esstisch stehen Ruchbrot, Oliven, Parmaschinken, Trauben vom eigenen Balkon, harter und weicher Käse, Tomaten, Joghurt, Baumnüsse. In der Ecke des Zimmers brennt eine Kerze. "Ich geniesse gerne", sagt sie.

Bereits sechs Jahre lang hatte sie als Krankenschwester gearbeitet, als sie mit der Hebammenausbildung begann. Danach trat sie ihre Stelle im Gebärsaal eines Kantonsspitals an. Neben zahlreichen Geburten gab es dort pro Jahr zwei bis vier Abtreibungen. Dabei werden mittels Medikamenten starke Wehen ausgelöst, welche das ungeborene Kind töten.

"Solche Spätabtreibungen sind für jede Hebamme ein Problem", sagt Myriam Häfliger, "egal, welchen Hintergrund sie hat." Manche weigern sich grundsätzlich mitzuwirken. Andere sind bereit, die Frau zu pflegen, wollen aber die Medikamente nicht verabreichen. Wieder andere wollen einfach einer Frau helfen, die in einer schweren Situation einen unendlich schweren Entscheid getroffen hat. In der Praxis sei es aber schwierig, solche Grenzen zu ziehen, sagt Myriam Häfliger. Weil sich Spätabtreibungen über Tage hinziehen können, trifft es mehrere Schichten.

Keine Gewissensfreiheit

1994 entbrannten Diskussionen zwischen Befürworterinnen und Gegnerinnen von Abtreibungen. "Glaubt ihr, ihr seid besser als wir?" fragten die Befürworterinnen. Die Gegnerinnen beriefen sich auf den Internationalen Hebammenverband: Just in jenem Jahr hatte der Verband bekräftigt, dass keine Hebamme zur Teilnahme an Abtreibungen gezwungen werden könne.

Mit ihrem Ultimatum setzte die Gebärsaal-Leitung den Diskussionen schliesslich ein Ende - und verneinte damit die Gewissensfreiheit. Myriam Häfliger verlor ihre Stelle und ihren Beruf. Seither arbeitet sie wieder als Krankenschwester. Sie ist heute Stationsleiterin in einer Privatklinik mit einem Team von 16 Leuten.

Die Geschehnisse von 1994 erzählt sie ruhig und sachlich, ohne spürbaren Groll. "Ich würde heute noch gleich entscheiden", sagt sie, "aber ich würde meinen Entscheid anders umsetzen." Damals wurde ihr Polemik vorgeworfen - "und das zum Teil nicht zu unrecht", stellt sie fest. "Wenn ich das Gefühl hatte, ungerecht behandelt zu werden, wurde ich wütend." Heute sei sie zurückhaltender: "Ich will in der Sache zwar eine klare Haltung haben, aber gleichzeitig eine wertschätzende und offene Haltung Andersdenkenden gegenüber."

Angst vor der Journalistin

Nachdem die Hebammen gekündigt hatten, bekamen die Medien Wind vom Eklat im Gebärsaal. Noch gut erinnert sich Myriam Häfliger an ein Treffen mit einer "Weltwoche"-Journalistin: "Ich hatte Angst, weil ich nicht wusste, was dabei herauskommt." Herausgekommen ist ein fairer Artikel, in dem Myriam Häfliger ihre Beweggründe darlegen konnte. Interviews im Radio und im Fernsehen und Vorträge kamen hinzu. "Diese öffentlichen Auftritte kosten mich ungeheure Energie", sagt sie, "denn wenn mir Vorwürfe gemacht werden, prallen sie nicht einfach an mir ab."
Findet Myriam Häfliger sich selber mutig? Sie überlegt und sagt dann: "Vielleicht schon." Im Unterschied zu vielen anderen fürchte sie sich beispielsweise nicht, vor Leuten etwas zu sagen. "Aber", sinniert sie, "vielleicht ist das gar nicht Mut, sondern eine Gabe, die ich von Gott erhalten habe."

Single mit 36

"Noch ein bisschen Tee?" Während meine Cousine Wasser aufsetzt, sehe ich mich in ihrer Altbauwohnung um. An der Wand hängen fünf Bilder: Zwei davon hat ein Freund gemalt. Auf dem altehrwürdigen Parkettboden steht ein moderner Esstisch. Auf dem antiken Schreibtisch liegt ein portabler Computer. Myriam Häfliger lebt alleine.

Mit dem Teekrug kommt sie aus der Küche zurück. Mit 20 hatte sie sich ihr Leben anders vorgestellt: Sie träumte von einem Ehemann in guter Position und von Kindern. "Doch irgendwann merkte ich, dass ich nicht parat bin für eine Beziehung, nur damit ich verheiratet bin. Ich kenne so viele unglückliche Ehen." Mehr als einmal hatte sie eine Beziehung und erlebte auch Enttäuschungen. Die Partnerfrage sei für sie nach wie vor offen, "eine Berufung zum Alleinsein habe ich nicht". Um alleine zu leben, brauche es keinen Mut, sagt sie. Es koste aber Mut, sich immer wieder zu entscheiden, das Beste aus seiner Situation zu machen. "Und es braucht auch Mut, mögliche Beziehungen zu prüfen und eventuell Nein zu sagen - trotz meinem Alter und trotz möglichen Vorwürfen, zu anspruchsvoll zu sein."

Vorbilder, die Mut machen

Wie findet sie Mut? "Gute Vorbilder ermutigen mich dazu, Mut zu haben", sagt sie. Lebensgeschichten von mutigen Menschen faszinieren sie: Dietrich Bonhoeffer, der Heli-Mission-Gründer Ernst Tanner, Ghandi, Mutter Teresa oder der Heilsarmee-Gründer William Booth - "alles Leute, die Entscheidungen treffen mussten, ohne zu wissen, wohin sie das führt".

In ihrem eigenen Leben war die Abtreibungsfrage eine der Entscheidungen mit den grössten Auswirkungen. In vielen Alltagssituationen gehe es jedoch auch darum, ehrlich zu sein - auch sich selber gegenüber: "Wer vielen kleinen Entscheiden ausweicht, wird den grossen auch ausweichen."

Sie bereut ihren Entscheid nicht. Doch damals hat sie Angst gehabt - sie wusste ja nicht einmal, ob sie eine neue Stelle finden würde. "Angst ist vermutlich ein wesentlicher Bestandteil solcher Entscheidungsfindungen", sagt Myriam Häfliger. "Doch wenn man diese Angst einmal überwunden hat, wird aus dem ersten Schritt ein zweiter und ein dritter und irgendwann ein Leben."

Datum: 29.03.2002
Autor: Markus Häfliger
Quelle: Chrischona Magazin

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