Marc Bareth

Unsere inakzeptablen Seiten

Jeder Mensch hat seine Schattenseiten.
Jeder Mensch hat Schattenseiten. Sie beschämen und es ist am einfachsten, sie zu verdrängen. Doch dadurch verschwinden sie nicht. Marc Bareth schreibt darüber, wie befreiend es sein kann, sich den eigenen Schwachstellen zu stellen.

Warum sorgen immer wieder Menschen für Skandale, von denen man es am wenigsten erwartet hätte? Menschen, die hohe moralische Ansprüche an sich selbst und an ihr Umfeld stellen. Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen und Vorbilder sind. Politikerinnen, Pastoren und einflussreiche Geschäftsleute gehen plötzlich fremd, veruntreuen Geld oder missbrauchen ihre Macht.

Wenn dann hin und wieder jemand auffliegt, sind wir überrascht und auch etwas empört. Dabei vergessen wir, dass auch ganz normale Menschen wie Sie und ich Gefahr laufen, verheerende Fehler zu machen.

Einsamkeit, die sich nicht bekämpfen lässt

Zum Beispiel Herr Müller. Herr Müller fühlt sich einsam. Schon seit Jahren. Aber er würde es nie zugeben, nicht sich selbst und schon gar nicht einem anderen Menschen gegenüber. Es macht ja auch keinen Sinn, dass er sich einsam fühlt. Er, der glücklich verheiratet zu sein scheint. Er, der immer von Menschen umgeben ist, die ihn schätzen. Warum sollte sich jemand wie er einsam fühlen?

Für Herrn Müller war bald klar, dass es an seiner Frau liegen muss, dass er sich einsam fühlt. Bei ihr müsste es ihm doch gut gehen, aber das tut es nicht. Es muss also ihr Fehler sein. Aber natürlich ahnt auch Herr Müller tief in seinem Inneren, dass es Unsinn ist, seiner Frau die alleinige Schuld zu geben. Deshalb löst jede Begegnung mit seiner Frau eine innere Zerrissenheit bei ihm aus.

Um nicht ständig mit diesen widersprüchlichen Gefühlen konfrontiert zu werden, zog er sich immer mehr von seiner Frau zurück. Stattdessen begann er wie verrückt, Sport zu treiben. Einen Ironman hat er absolviert, geholfen hat es nichts. Jetzt ist er drauf und dran, andere Ersatzhandlungen zu machen, die seiner Ehe noch mehr schaden werden. Nur um dieses Gefühl der Einsamkeit für kurze Zeit zu betäuben.

Verdrängen lässt es nicht verschwinden

Wir alle haben Persönlichkeitsanteile und Gedanken, die nicht besonders vorzeigbar sind. Natürlich versuchen wir, unsere schwierigen Seiten so gut wie möglich zu verbergen. Manchmal sogar vor uns selbst, weil wir uns schämen, uns so einsam, minderwertig, zornig, lüstern oder eifersüchtig zu fühlen.

Aber das Problem ist: Wenn wir unsere inakzeptablen Seiten verdrängen, verschwinden sie nicht. Nur weil sie nicht sein dürfen, sind sie nicht plötzlich nicht mehr da. Im Gegenteil: Sie werden dann auf Umwegen und besonders in unserer Partnerschaft umso heftiger wieder auftauchen.

Mut zur Ehrlichkeit

Um das zu verhindern, braucht es Ehrlichkeit und Mut. Die Ehrlichkeit sich einzugestehen, dass man selbst tatsächlich auch problematische Persönlichkeitsanteile hat. Und den Mut, sich seine Abgründe anzusehen. Der Schweizer Psychiater C.G. Jung hat es einmal treffend formuliert: «Nur was ich annehme, kann ich verändern.»

Herr Müller kann seine Einsamkeit entweder weiter verdrängen und sich in Süchte oder in eine neue Partnerschaft flüchten. Oder er kann sich ihr stellen. Dafür braucht es nicht unbedingt jahrelange Psychotherapie. Wenn es ihm gelingt, ehrlich mit seiner Frau und mit Gott ins Gespräch zu kommen, stehen die Chancen gut, dass seine Einsamkeit keine destruktiven Ventile mehr braucht oder sogar geheilt werden kann.

Für Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen und für ihre hohen moralischen Ansprüche bekannt sind, ist die Gefahr besonders gross, ihre inakzeptablen Seiten zu verdrängen. Auf der Bühne beklatscht zu werden und sich gleichzeitig einzugestehen, dass man bedürftig ist und hässliche Persönlichkeitsanteile hat, ist anspruchsvoll. Es scheint einfacher zu sein, diese inakzeptablen Seiten zu verdrängen. Doch genau das führt dazu, dass sich diese Anteile ein anderes Ventil suchen und so wesentlich zu den Skandalen beitragen, von denen wir hören und lesen.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Familylife. Marc Bareth ist Autor und Blogger bei Familylife und stärkt dadurch Ehen und Familien in der Schweiz.

Zum Thema:
Dossier Beziehungskiste
Livenet-Talk mit Andreas Loos: Umglauben statt Unglauben
Livenet-Talk mit Michael Sieber: Tragfähige Beziehungen schaffen
Auf den Kopf gestellt: Gesucht: Mut zur Sanftheit

Datum: 27.02.2024
Autor: Marc Bareth
Quelle: FAMILYLIFE

Verwandte News
Werbung
Werbung
Livenet Service