Soll das Christentum die Bibel von “antisemitischen Stellen” reinigen?

Daniel Jonah Goldhagen

Nach seinem Buch “Hitlers willige Vollstrecker” (1996), in dem er die Deutschen als geborene Massenvernichter darstellt, hat Daniel Jonah Goldhagen jetzt noch einmal zugeschlagen. Mit dem Buch “Die katholische Kirche und der Holocaust – Eine Untersuchung über Schuld und Sühne” (Siedler-Verlag, Berlin 2002, 480 Seiten, 24,90 EUR) gilt sein zweiter Hieb der römisch-katholischen Kirche. Sie steht als Beispiel für das Christentum insgesamt. Diesem wirft Goldhagen vor, mit seinem angeblich antijudaistischen Neuen Testament, mit seiner Lehre und Liturgie den Boden für den eliminatorischen Antisemitismus bereitet zu haben.

Goldhagens Studie gleicht einem Tribunal. Nach der Beweiserhebung – Fakten, die er allesamt anderen Werken entnommen hat – folgen die Massstäbe für den zu fällenden Urteilsspruch, dann das Urteil selbst: ideelle und materielle Wiedergutmachung. Es handelt sich nicht eigentlich um ein historisch-politisches Buch, sondern um eine mit religiöser Inbrunst geführte Auseinandersetzung. Das Christentum und seine Lehren bleiben Goldhagen letztlich fremd. Er gibt den Verurteilten zu bedenken, dass sie womöglich ihre “christliche Bibel” von Antijudaismen “reinigen” sollten, sieht aber durchaus klar, welche Konsequenzen ein solcher Schritt hätte: Er käme einer Selbstaufgabe der christlichen Kirchen gleich.

Die Geschichte Israels ausgeblendet

Erstaunlich ist, dass Goldhagen zwar viele historische Sachverhalte bis in die 90er Jahre hinein in seinen “Prozess” mit einbezieht, nicht aber die Geschichte Israels. Weder geht er auf jene Stellen in der Thora (Fünf Bücher Mose) ein, die den Genozid an anderen Völkern empfehlen, noch auf die imperiale Herrschaft der Davididen 1.000 Jahre vor Christi Geburt. Vollends fehlt eine Erörterung des Zionismus und des “Staat-Kirche-Verhältnisses” im modernen Israel. In dem 1948 gegründeten Judenstaat gibt es nichtjüdische Minderheiten, die manchmal durchaus den Eindruck haben, gegenüber der Mehrheit des Staatsvolkes mindestens benachteiligt zu sein. Diese Erinnerung soll den Massenmord an den europäischen Juden, für den Deutschland die Schuld trägt, nicht verkleinern oder relativieren. Aber die Einbeziehung solcher Fakten hätten Goldhagen helfen können, zu verstehen, dass unterdrückte und verfolgte Minderheiten zu dominanten Mehrheiten werden können. Daran hindert sie keine Religion, keine rassische oder linguistische Besonderheit.

Wozu viele Völker fähig sind

Vielmehr gehört es zu den schrecklichen anthropologischen Sachverhalten, dass unter bestimmten Bedingungen Völker dazu fähig sind, andere Völker oder Subgruppen in ihrem eigenen Gemeinwesen zu verfolgen und sogar zu ermorden. Obwohl Goldhagen nur ein erfolgreicher Schriftsteller ohne alle eliminatorische Absichten ist, hat ihm der Berliner “Tagesspiegel” den Namen “Der Inquisitor” gegeben. So schnell kann ein selbsternannter Rächer der Opfer zum Täter werden.

Datum: 28.10.2002
Quelle: idea Deutschland

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