Goldhagens Studie gleicht einem Tribunal. Nach der Beweiserhebung – Fakten, die er allesamt anderen Werken entnommen hat – folgen die Massstäbe für den zu fällenden Urteilsspruch, dann das Urteil selbst: ideelle und materielle Wiedergutmachung. Es handelt sich nicht eigentlich um ein historisch-politisches Buch, sondern um eine mit religiöser Inbrunst geführte Auseinandersetzung. Das Christentum und seine Lehren bleiben Goldhagen letztlich fremd. Er gibt den Verurteilten zu bedenken, dass sie womöglich ihre “christliche Bibel” von Antijudaismen “reinigen” sollten, sieht aber durchaus klar, welche Konsequenzen ein solcher Schritt hätte: Er käme einer Selbstaufgabe der christlichen Kirchen gleich. Erstaunlich ist, dass Goldhagen zwar viele historische Sachverhalte bis in die 90er Jahre hinein in seinen “Prozess” mit einbezieht, nicht aber die Geschichte Israels. Weder geht er auf jene Stellen in der Thora (Fünf Bücher Mose) ein, die den Genozid an anderen Völkern empfehlen, noch auf die imperiale Herrschaft der Davididen 1.000 Jahre vor Christi Geburt. Vollends fehlt eine Erörterung des Zionismus und des “Staat-Kirche-Verhältnisses” im modernen Israel. In dem 1948 gegründeten Judenstaat gibt es nichtjüdische Minderheiten, die manchmal durchaus den Eindruck haben, gegenüber der Mehrheit des Staatsvolkes mindestens benachteiligt zu sein. Diese Erinnerung soll den Massenmord an den europäischen Juden, für den Deutschland die Schuld trägt, nicht verkleinern oder relativieren. Aber die Einbeziehung solcher Fakten hätten Goldhagen helfen können, zu verstehen, dass unterdrückte und verfolgte Minderheiten zu dominanten Mehrheiten werden können. Daran hindert sie keine Religion, keine rassische oder linguistische Besonderheit. Vielmehr gehört es zu den schrecklichen anthropologischen Sachverhalten, dass unter bestimmten Bedingungen Völker dazu fähig sind, andere Völker oder Subgruppen in ihrem eigenen Gemeinwesen zu verfolgen und sogar zu ermorden. Obwohl Goldhagen nur ein erfolgreicher Schriftsteller ohne alle eliminatorische Absichten ist, hat ihm der Berliner “Tagesspiegel” den Namen “Der Inquisitor” gegeben. So schnell kann ein selbsternannter Rächer der Opfer zum Täter werden.Die Geschichte Israels ausgeblendet
Wozu viele Völker fähig sind
Datum: 28.10.2002
Quelle: idea Deutschland