Kirche und Staat

Sollen auch Freikirchen öffentlich-rechtlich anerkannt werden?

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Nach der Reformation waren die meisten Schweizer Kantone entweder mit der Evangelisch-reformierten oder mit der Römisch-katholischen Kirche eng verbunden, einige weitere waren paritätisch beiden grossen christlichen Konfessionen verpflichtet. In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts lief der Trend in Richtung öffentlich-rechtliche Anerkennung beider grossen Konfessionen. Eine Ausnahme bildeten Genf und Neuenburg, welche Kirche und Staat trennten.

Zur Zeit wird in verschiedenen Kantonen das Verhältnis von Kirche und Staat neu überdacht, etwa in der Waadt mit der neuen Staats- und Kirchenverfassung oder in Zürich, wo ein neues Kirchengesetz bald im Kantonsparlament zur Sprache kommen soll. Sollen nun auch die Freikirchen eine öffentliche Anerkennung fordern? Ja, denn ihnen stehen die gleichen Rechte zu wie den Landeskirchen, sagt Jurist und Professor Markus Müller-Chen. Eine Anerkennung der Freikirchen würde höchstens Verwirrung stiften, glaubt dagegen Jurist und Richter Peter Schäppi.

Gemeinsame Verantwortung

Thron und Altar sind zwei Institutionen, die sich in ihrer Funktion unterscheiden. Und trotzdem: Staat und Kirche tragen in vielen Bereichen eine gemeinsame Verantwortung, etwa in der Alterspflege, im Erziehungs-, Fürsorge- und Ausbildungswesen oder in der Gestaltung des Familienlebens. Die sich ergänzende Zusammenarbeit ist unabdingbar und auch sinnvoll. Aber, und das scheint mir die entscheidende Frage zu sein, bedarf es für dieses Zusammenwirken einer formalisierten Anerkennung einzelner Kirchen?

In meinem Verständnis ist es auf der einen Seite Aufgabe des Staates, sich auf den Schutz der Glaubens-, Gewissens- und Kultusfreiheit zu beschränken. Dazu mag er auch verpflichtet werden, punktuell Leistungen an Religionsgemeinschaften auszurichten, die in seinen Augen besonders wertvolle, dem Staatsganzen dienende Aufgaben im öffentlichen Interesse erfüllen.

Auf der anderen Seite müssen sich die Freikirchen in die Pflicht nehmen lassen, "der Stadt Bestes" zu wollen. Die Ausgestaltung und Erfüllung dieses staats- und gesellschaftspolitischen Auftrags ist jedoch nicht an die Tatsache einer öffentlich-rechtlichen Anerkennung gebunden. Die Unterstützung, Belebung und Erneuerung von Staat und Gesellschaft hat vielmehr aus dem Feuer des Geistes und der Überzeugungskraft der Tat zu geschehen. Dies bedingt jedoch, dass Menschen bereit sind, sich für diesen Dienst motivieren zu lassen. Ich bin überzeugt, dass diese Bereitschaft von der staatlichen Anerkennung der jeweiligen Kirche unbeeinflusst bleibt.

Führen diese Überlegungen zwingend zu einer Trennung von Staat und Kirche nach dem Muster von Genf, Neuenburg oder den USA? Wir wissen alle, dass am 2. März 1978 der Versuch, Staat und Kirche vollständig zu trennen, auf Bundesebene kläglich gescheitert ist. Ich meine aber, dass dies primär gezeigt hat, dass die kirchengeschichtlichen Realitäten der Schweiz es verbieten, an der Kirchenhoheit der Kantone zu rütteln. Anderseits bin ich mir bewusst, dass die Landeskirchen einen Verlust ihrer formellen Vorrangstellung und finanziellen Privilegien nicht ohne weiters preisgeben werden.

Gleichstellung der Freikirchen

Libertas ecclesiae! Dieser Kampf um Freiheit ist immer wieder von neuem zu führen. Dabei gilt es aber im Auge zu behalten, dass es nicht um die Vormachtstellung einer Institution gehen kann, sondern um das Wohl des Menschen und sein Recht auf eine Selbstbestimmung seiner religiösen Überzeugung. Der Staat hat sich dabei jeder Einmischung in diesen Entscheidungsspielraum zu enthalten. Seine Aufgabe ist der Schutz der Glaubensrechte und der Verkündigung sowie der Unterstützung aller Bemühungen mit staatstragender und sozialer Relevanz.

Die Freikirchen müssen sich der Herausforderung stellen, ihre Berechtigung in einem multinationalen und multireligiösen Staat aus der Kraft ihrer Glaubensinhalte praktisch unter Beweis zu stellen. Die Erfahrung zeigt, dass sich ihr Einsatz qualitativ nicht von den Landeskirchen unterscheidet, wenn auch quantitativ noch mehr getan werden könnte. Sie sind deshalb den öffentlich-rechtlichen Kirchen insofern gleichzustellen, als sie für ihre Partizipation am öffentlichen Leben gleichermassen zu honorieren sind. Umgekehrt wirft dies die Frage auf, ob die heutige Regelung noch die Lage der von massivem Mitgliederschwund betroffenen Landeskirchen reflektiert. Die Berechtigung des Einsatzes von Steuergeldern ist auf diesem Hintergrund gründlich zu überdenken.

Dies alles führt mich zur Schlussfolgerung, dass die Religionsgemeinschaften dem Staat als unter sich gleichberechtigte Subjekte gegenüberstehen sollten. Will der Staat aufgrund ihrer unterschiedlichen Bedeutung für Staat und Gesellschaft unter ihnen differenzieren, soll er dies nach einheitlichen Kriterien tun und nicht alleine gestützt auf die historische Ausgangslage. Die selektive öffentlich-rechtliche Anerkennung mag staats- und kirchengeschichtlich ihre Berechtigung gehabt haben, im Staat der Zukunft hat sie keinen Platz mehr. Welche Form und welchen Inhalt eine zukünftige Anerkennung haben wird, ist sekundär. Essentiell ist vielmehr, dass der Staat die Existenz und die Bedeutung der Freikirchen im Staatsganzen zur Kenntnis nimmt und entsprechend honoriert.

Der Autor, Dr. Markus Müller, geb. 1967, ist Rechtsanwalt bei einer Advokatur in Basel und Professor für Privatrecht, Rechtsvergleichung, Internationales Privat- und Handelsrecht an der Universität St. Gallen. Er ist Mitglied der Chrischona-Gemeinde Muttenz

Rezepte von gestern für Probleme von morgen

Seit einigen Jahren laufen Bestrebungen, die öffentlich-rechtliche Anerkennung weiteren Religionsgemeinschaften zu öffnen. Sie sollen damit, wie die Landeskirchen, vor allem das Recht erhalten, ihre Mitglieder durch die Einwohnerkontrollen zu erfassen und bei ihnen Kirchensteuern zu erheben. Ich halte diesen Weg für falsch. Damit sollen Probleme von morgen mit Rezepten von gestern gelöst werden. Das bringt niemandem einen echten Nutzen und schafft neue Ungerechtigkeiten.

Die öffentlich-rechtliche Anerkennung der Evangelisch-reformierten und der Römisch-katholischen Kirche ist nicht nur historisches Erbe, sondern spiegelt auch die Zugehörigkeit der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung zu einer dieser beiden Grosskirchen. Dank ihrer Grösse stellen sie einen bedeutenden Faktor im öffentlichen Leben dar. Auch wenn der Trend zur multi-kulturellen Gesellschaft unverkennbar ist, erreicht keine andere Religionsgemeinschaft auch nur annähernd die Grösse der beiden Landeskirchen. Das öffentliche Wirken dieser anderen Gemeinschaften hält sich in sehr engen Grenzen, in der Regel kümmern sie sich nur um ihre eigenen Anhänger. Die Rechtsgleichheit fordert nur eine Gleichbehandlung von Gleichem. Da sich keine der anderen Religionsgemeinschaften mit den beiden Landeskirchen vergleichen lässt, verletzt es das Gebot der Rechtsgleichheit nicht, wenn sie weiterhin privatrechtlich organisiert bleiben.

Gesellschaftliche Realität

Das bestehende duale System der öffentlich-rechtlichen Anerkennung der Grosskirchen und der Trennung von Kirche und Staat bezüglich aller anderen Religionsgemeinschaften entspricht den heutigen gesellschaftlichen Realitäten. Es spiegelt insbesondere die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung einer Landeskirche angehört und dass die Landeskirchen besondere Leistungen für die Öffentlichkeit erbringen. Dadurch ist dieses System auch gerecht, denn es behandelt alle anderen Religionsgemeinschaften gleich und belässt ihnen den nötigen Freiraum für eine gedeihliche Entwicklung.

Soll man also nichts verändern? Die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung ist dadurch gekennzeichnet, dass einerseits die beiden grossen christlichen Landeskirchen an einem kontinuierlichen Mitgliederschwund leiden und dass anderseits vor allem als Folge der Einwanderung immer mehr Anhänger anderer Religionen unter uns leben. Diese Veränderungen lassen ein Beharren auf dem Status quo nicht zu. Eine weitere Entflechtung der zum Teil noch erheblichen Bindungen zwischen dem Staat und den beiden Landeskirchen und damit auch ein Abbau ihrer Privilegien ist ein Gebot der Stunde. Die Entflechtung bringt ihnen aber auch mehr Autonomie bei der Gestaltung ihrer inneren Angelegenheiten, zu denen etwa auch die Regelung des Stimm- und Wahlrechts ihrer Mitglieder gehört.

Die übrigen, privatrechtlich organisierten Religionsgemeinschaften profitieren vom Schutz der Glaubens- und Gewissensfreiheit, von der Kultus-, Vereins- und Versammlungsfreiheit. Unter dem Schutz dieser Freiheitsrechte dürfen sie sich frei entfalten und sogar – was in vielen anderen Ländern rechtlich oder zumindest faktisch untersagt ist – missionieren. Im Rahmen der Bau- und Zonenordnung dürfen sie schliesslich auch Kirchen und andere Bauten errichten.

Wie immer man die Regeln für eine Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften fasst, entstehen daraus schnell neue Ungerechtigkeiten. Insbesondere werden nicht anerkannte Gemeinschaften diskriminiert. So könnten auch christliche Freikirchen, welche die Bedingungen für eine Anerkennung nicht erfüllen, leicht als Sekten abgestempelt werden.

Der Autor, Dr. Peter Schäppi, geb. 1942, Thalwil, ist Bezirksrichter in Zürich und Präsident der EVP des Kantons Zürich sowie Mitglied des Zürcher Verfassungsrates. In seiner juristischen Dissertation hat er sich u.a. mit dem Schutz religiöser Minderheiten befasst. Peter Schäppi ist Mitglied des christlichen Treffpunkts Zimmerberg (Bewegung Plus) in Horgen.

Datum: 25.10.2002
Quelle: ideaSpektrum Schweiz

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