Viele haben Angst, dass «Christ sein» zu einer
engen Weltsicht führt, in der Menschen, die «anders» sind, keinen Platz haben. Woher
kommt diese Ansicht eigentlich? Sind überzeugte Christen per se intolerant?
Wenn es heute ein
Argument gibt, das überzeugten Christen gern vorgehalten bzw. vorgeworfen wird,
ist es das: «Christen nennen bestimmte Verhaltensweisen richtig und andere
falsch. Sie schreiben den Menschen also vor, wie sie leben oder was sie glauben
sollen. Christen glauben, die einzige Wahrheit zu haben. Das macht sie
intolerant allen anderen Meinungen gegenüber.» Darum wollen viele mit diesem
Glauben nichts zu tun haben.
Schmaler Weg – enges Denken?
Heute fällt es nicht
schwer, Belege für den Vorwurf zu finden, dass das Christentum eine enge und
intolerante Religion sei. In einer Zeit, in welcher der Relativismus («es gibt
keine absolute Wahrheit») zur absoluten Wahrheit erklärt worden ist, ärgern
christliche Aussagen wie «Jesus ist der einzige Weg» oder «Geht ein durch die
enge Pforte» schon beim blossen Hören bzw. Lesen. Leider zeichnen sich
engagierte Christen auch nicht immer durch besondere Toleranz und
Weitherzigkeit aus – sei es nach aussen oder sogar in unzähligen
inner-christlichen Konflikten.
Der paradoxe Jesus
Wenn man Jesus anschaut, auf den sich alle Christen berufen, stösst man auf ein ganz bemerkenswertes
Paradox. Auf der einen Seite macht er unglaublich «enge» Aussagen. Jawohl, er
hat sich als der «einzige Weg» zu Gott bezeichnet. Er lehrte nicht einige
optionale Tugenden für ein besseres Leben. Er beanspruchte nicht nur, weise zu
sein, sondern «die Wahrheit».
Aber dieser Mann, der
so atemberaubend exklusive Aussagen
machte, lebte ein skandalös inklusives
Leben: Er berührte einen «unberührbaren» Leprakranken; er erlaubte es einer
stadtbekannten Prostituierten, mit ihren Haaren seine Füsse zu trocknen. Er
lobte einen römischen Hauptmann und hatte Frauen in seinem Gefolge; er war
sowohl beim religiösen Establishment zum Essen und feierte Parties mit
verachteten Zolleinnehmern.
Es scheint, je enger
und damit stärker seine Hingabe an Gott war, um so weiter wurde sein Herz, zu allen
Menschen die Arme auszustrecken.
Eine normale Unterhaltung führen
Die
Barna-Forschungsgruppe in den USA hat kürzlich eine Untersuchung über die
Weitherzigkeit von Menschen angestellt. Eine Testfrage war, ob man eine
«normale Unterhaltung» mit einem Angehörigen einer ganz anderen Bevölkerungsgruppe
führen könne, wie einem Moslem, einem Atheisten, einem Evangelikalen, einem
Schwulen oder einem Zeugen Jehovas. Die Gruppe, die die meisten Schwierigkeiten
hatte, eine normale Unterhaltung mit solchen Menschen zu führen, waren
Evangelikale.
Zum Kontrast: Die
längste Unterhaltung, die von Jesus aufgezeichnet wurde, war ein Gespräch mit
einer heidnischen Samariterin, fünfmal veheiratet und jetzt mit einem Mann
zusammenlebend, der nicht ihr Mann war – eine Frau, die kein Rabbi auch nur von
fern angesprochen hätte. Wieso war Jesus so unglaublich exklusiv in seiner
Liebe zu Gott und so unglaublich offen in seinen Beziehungen? Wie passen diese
unglaubliche «Enge» und diese skandalöse «Weite» zusammen?
Der innere Zusammenhang
Wer Jesus wirklich zu
verstehen und ihm nachzufolgen versucht, erfährt bis heute: Tiefe Wahrheit zu
finden und ein weites, offenes Herz zu haben, schliesst sich nicht aus, sondern
bedingt sich geradezu. Bei Jesus stirbt zuallererst alle Scheinheiligkeit, alle
oberflächliche Frömmigkeit, alle eingebildete Rechthaberei und mein grosses
Ego. Ich erlebe die Abgründe meines eigenen Herzens – und bekomme damit den
Schlüssel zum Herzen aller anderen Menschen. Wer wirklich dem einzigen Gott
begegnet, wird nicht arrogant, sondern demütig.
Es kann nicht deutlich
genug gesagt werden: Der Kern des christlichen Glaubens ist nicht eine
Denk-Überzeugung, sondern eine tiefe, persönlichkeitsverändernde Begegnung mit
meinem Schöpfer und Vater.
Daraus fliesst Liebe,
die Toleranz einschliesst, aber viel weiter geht. In der nächsten Woche an der
gleichen Stelle soll uns darum der vielgepriesene und vielfach missverstandene Begriff
«Toleranz» beschäftigen.