Nach einem traumatischen Erlebnis geht man nicht
einfach zur Tagesordnung über. Diese Erfahrung machte Anjanette Young aus
Chicago. Aber sie erlebt auch, wie Gott ihren Kampf um Gerechtigkeit gebraucht,
um anderen zu helfen.
Anjanette Young (52) aus Chicago, USA wird den 21.
Februar 2019 nie vergessen. Wie so oft kommt die Sozialarbeiterin gegen 18.30
Uhr von der Arbeit nach Hause. Sie dreht noch eine kurze Runde mit dem Hund.
Zurück in der Wohnung schaltet sie den Fernseher an und zieht sich die
Arbeitskleidung aus. In dem Moment kracht es mehrmals an der Wohnungstür. Diese
wird mit Gewalt geöffnet und ein Dutzend männliche Polizisten stürmen die
Wohnung. Mit ihrer Razzia wollen sie einen Mann wegen unerlaubtem Waffenbesitz
stellen. Sie finden aber nur eine nackte alleinstehende Afroamerikanerin.
40
Minuten lang steht Anjanette Young ohne Kleidung und mit Handschellen gefesselt
zwischen den Polizisten und versucht, ihnen klarzumachen: «Sie sind im falschen
Haus. Ich bin allein.» Irgendwann während dieser Zeit wirft ihr ein Beamter
wenigstens eine Decke über. Als den Polizisten endlich klar wird, dass ihre
Zielperson zwei Häuser weiter wohnt, ziehen sie sich wieder zurück. Zurück
bleibt eine verängstigte Frau, die regelmässig darum gebetet hatte, dass Gott
sie schützt, und die sich jetzt fragt: «Wo war Gott? Wie konnte er zulassen,
dass mir so etwas passiert?»
Es ist nicht vorbei
Nach solch einem Ereignis ist nichts mehr, wie es
vorher war. Anjanette betreut beruflich Traumaopfer – jetzt ist sie selbst
eines. Sie leitet in ihrer Baptistengemeinde den Bereich der Gastfreundschaft –
jetzt braucht sie Seelsorge und Psychotherapie. Sie wird verfolgt von der
Missachtung der Männer, die sie in ihren Augen nicht als Menschen behandelten,
und von den verstörenden Bildern dieser Nacht. Sie sagt:
«Ich habe in dieser Nacht nicht mein Leben verloren, aber einen grossen Teil
davon.»
Anjanette findet grosse Unterstützung bei Charlie
Dates, ihrem Pastor. Er betet mit ihr, spricht mit ihr über Zorn und
Gerechtigkeit, Dankbarkeit und Vergebung. «Tröste dich damit, dass Gott bei dir
war und dein Leben bewahrt hat», meint er. Für Anjanette dauert es ein ganzes
Jahr, bis sie den Gedanken an Dankbarkeit überhaupt zulassen kann und will.
Die Polizei verbucht den Vorfall als Kollateralschaden
– so etwas kann passieren. Als dasselbe in ihrer Nachbarschaft wieder
geschieht, diesmal mit Todesfolge, geht Anjanette vor Gericht und an die
Öffentlichkeit. Sie weiss, dass die Nacht damals anders verlaufen wäre, wenn
sie als Weisse in einem schönen Vorort gelebt hätte, und dass der
Polizeieinsatz für sie vermutlich tödlich geendet hätte, wenn zufällig ihr
Neffe zu Besuch da gewesen wäre.
Es geht nicht ums Geld ...
Im Zuge der Verhandlungen gibt die
Sozialarbeiterin die Videos der Body-Cams der Polizisten frei, die seither in
Auszügen über die sozialen Medien verbreitet werden. Sie spricht in Talkshows
und auf Pressekonferenzen über ihre Erlebnisse. Man sieht es ihr an, wie viel
Mühe ihr diese Dinge machen – jedes Mal wird die alte Wunde wieder aufgerissen
–, doch sie will etwas an dem System der Gewalt in Chicago ändern.
Vor Gericht
gewinnt Anjanette. Ihr werden vor Gericht 2,9 Millionen US-Dollar Entschädigung
zugesprochen. Doch sie unterstreicht, dass es ihr nicht ums Geld geht. Die
meisten der beteiligten Polizisten wurden gekündigt – der Polizeichef blieb.
Und das, obwohl die Chicagoer Polizei in den letzten 20 Jahren um die 600(!)
Millionen Dollar an Entschädigungszahlungen wegen ähnlicher Vorfälle bezahlen
musste. Anjanette will kein Geld – sie will Gerechtigkeit!
Wiederherstellung
Ihr Ziel bleibt Wiederherstellung, nicht Rache.
Trotzdem kämpft Anjanette immer noch mit Wut und Schmerz. Sie tut sich immer
noch schwer damit, das Gewesene zu akzeptieren. Als ein Gastprediger in ihrer
Gemeinde die Frage stellt: «Weisst du, wer du bist?», muss sie an ihre
Therapeutin denken, die ihr immer wieder sagt, dass sie sich «im Schatten der
Unwürdigkeit» verstecke.
Wer ist sie? «Heute … kann ich mit Zuversicht sagen,
dass ich eine 52-jährige afroamerikanische Frau bin, Nachfahrin von Sklaven,
Nachfolgerin von Christus, eine hervorragende Sozialarbeiterin, eine Kämpferin
für Gerechtigkeit, Mutter eines Kindes und Freundin und Familienangehörige für
viele.» Mehr noch. Sie beginnt zu sehen, dass der Übergriff genauso wie ihr
Kampf gegen Ungerechtigkeit vielen Unterdrückten eine Stimme gibt. Anjanette
Young ist noch nicht «heil», aber sie ist inzwischen «eine Frau Gottes, die
gelernt hat, alle Erfahrungen des Lebens durch eine geistliche Brille zu sehen,
weil sie weiss, dass denen alle Dinge zum Besten dienen, die nach dem Vorsatz
berufen sind».