Yvonne Pfister

Nach dem Suizid der Tochter zurück im Leben

2013 erlebt Yvonne Pfister (60) aus Pfäffikon ZH den Suizid ihrer ältesten, damals 25-jährigen Tochter Evelyne. Der Schock sitzt tief. Viel tiefer ist jedoch der Friede, der die dreifache Mutter alsbald erfüllt und der auch bei ihrem Mann Viktor bis heute andauert. Die gelernte Krankenpflegerin erzählt:
Yvonne Pfister (Bild: Bernhard Stegmayer)
Tochter Evelyne Pfister
Regionalausgaben der Jesus.ch-Print Nr. 56 zu Ostern

«Sonntag, 6. Januar 2013. Wir haben gerade das Mittagessen beendet, als das Telefon läutet. Eine WG-Kollegin von Evelyne möchte wissen, wie es ihr geht. Sie erzählt, Polizisten hätten das Zimmer unserer Tochter durchsucht und sie mit auf den Posten genommen. Wenig später meldet sich Evelyne selbst: 'Papi, ich habe wohl eine grosse Dummheit gemacht, ich habe versucht, von einer Brücke auf eine Autobahn zu springen. Sie bringen mich nach Kilchberg in die Klinik.' Was? Doch nicht unsere lebensfrohe Evelyne! Vor kurzem war sie von ihrem Sprachaufenthalt in Australien zurückgekehrt, hatte grosse Pläne. Das konnte nicht wahr sein! Sofort machen wir uns auf den Weg. Die Ärztin beruhigt uns, spricht von einer möglichen Kurzschlusshandlung und unsere Tochter sieht selbst ein, einen grossen Fehler begangen zu haben. Zur Sicherheit bleibt sie über Nacht in der Klinik. Ich atme auf.

Glas und Gummi

Am Abend dann ein Anruf aus der Klinik: Evelyne habe ein Glas zerschlagen und sich absichtlich verletzt. Da wird mir der Ernst der Lage bewusst. Mehrfach fügt sich Evelyne Schnittwunden zu, an den Unterarmen und am Hals. Zu ihrem Schutz folgt eine 1:1-Betreuung rund um die Uhr. Mein Mann Viktor und ich besuchen Evelyne abwechselnd zweimal am Tag, meist begleitet mich ihre Schwester Michèle.

Eines Morgens fahre ich allein hin und Evelyne ist nicht in ihrem Zimmer. Man hat sie in eine Gummizelle gebracht. Normalerweise dürfte ich nicht zu ihr. Das Klinikpersonal bewundert jedoch unseren starken Familienzusammenhalt, sagt, andere würden an solchen Situationen zerbrechen… Evelyne ist mit Medikamenten vollgepumpt und schwach. Ich schliesse sie fest in meine Arme und habe sie einfach lieb. Man erklärt mir nachher, sie sei aggressiv geworden und kaum mehr zu bändigen gewesen. Mir kommen die Tränen…

Diagnose Psychose

Evelyne leide an einer Psychose, heisst es kurz darauf. Oft hören diese Patienten Stimmen, so auch Evelyne. Die Stimmen befehlen ihr, sich selbst zu zerstören, ihr Handeln ist fremdgesteuert.

Wie wir, glaubt sie fest an Gott, aber scheint davon überzeugt, es sich mit ihm vermasselt zu haben. Manchmal bittet uns Evelyne, mit ihr zu beten, sie selbst kann ihr inneres Chaos nicht in Worte fassen. Eines Tages dann der Durchbruch; zuerst ein zaghaftes Fragen: 'Hat Gott mich immer noch lieb?' 'Hat er mich nicht aufgegeben?' bis zum entschiedenen: 'Nein, Gott steht zu mir!' 'Nichts kann mich von seiner Liebe trennen!'. Evelynes Freundschaft mit Gott wird tiefer und stärker. Dies zu erleben, freut uns riesig.

Die Wende

Nach einem Monat Klinikaufenthalt darf Evelyne zunächst tageweise und bald ganz wieder bei uns wohnen. Die Medikamente verursachen ihr starke Kopf- und Rückenschmerzen, Müdigkeit und Sehstörungen. Sie hält es kaum noch aus. Mit Erlaubnis ihrer Psychiaterin werden die Präparate gestoppt – und es geht zusehends aufwärts. Evelyne kann wieder arbeiten, besteht die Aufnahmeprüfung für die Ausbildung als Kleinkindererzieherin und zieht zurück in ihre WG. Alles scheint überstanden.

Bis zu jenem Dienstagabend, am 14. Mai 2013, als wieder eine von Evelynes WG-Kolleginnen anruft. Sie sei beunruhigt, die Haustüre sei offen gestanden und das Essen auf dem Herd. Handy, Jacke und Schlüssel von Evelyne seien da – nur sie selbst nicht. Wir warten noch einen Moment ab und alarmieren dann die Polizei.

Der Sprung

Um drei Uhr früh läutet es an der Haustüre. Mir ist sofort klar, was Sache ist. Es fällt mir unendlich schwer, aufzustehen und die Nachricht entgegenzunehmen. Ich bete: 'Herr, was mutest du uns da nur zu?! Jetzt brauchen wir dich wirklich!' Alles in mir sträubt sich. Die Polizei erzählt, Evelyne sei vor einen Zug gesprungen. Ihre Leiche sei sehr entstellt, sie raten uns dringend ab, sie nochmals anzuschauen. Wir würden sie besser so in Erinnerung behalten, wie wir sie kannten.

Nachdem sich die Beamten versichert haben, dass wir zurechtkommen, legen wir uns wieder hin. An Schlaf ist nicht zu denken. Folgender Vers aus der Bibel, aus dem Römerbrief, Kapitel 8, Vers 38 geht mir nicht aus dem Kopf: 'Denn ich bin ganz sicher: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Dämonen, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch irgendwelche Gewalten, weder Hohes noch Tiefes oder sonst irgendetwas auf der Welt können uns von der Liebe Gottes trennen, die er uns in Jesus Christus, unserem Herrn, schenkt.' Ich bin berührt, als Viktor am Morgen erzählt, in Gedanken habe er schon die Todesanzeige formuliert – mit exakt diesem Bibelvers. Was für eine starke Zusage, was für ein Trost von unserem Vater im Himmel!

Friede trotz Fragen

Die Nachricht von Evelynes Tod hat mich wie ein Hammerschlag getroffen. Mit Sorge denke ich an die kommenden Wochen und Monate… Rückblickend war dies unbegründet. Zwei Wochen nach Evelynes Tod hatte ich in meinem Notizbuch festgehalten: 'Ich staune, wie es uns geht. Ich fühle mich wie in Watte gepackt, ein weicher, warmer Mantel. Es ist einfach Friede da, Friede, der in dieser Situation völlig unbegreiflich ist.'

Immer wieder hatten wir und viele mit uns für Evelyne um Schutz gebetet. Wo war Gott in alledem? Kam er zu spät? War das Böse mächtiger? Eine Antwort auf diese Fragen habe ich immer noch nicht. Aber sie sind nicht bohrend oder lähmend. Der Friede, der Viktor und mich bis heute erfüllt, ist viel stärker als die Fragen. Trotz allem kann ich Gott von ganzem Herzen Lieder singen und mich freuen. Ich weiss, dass er es gut mit uns meint. Auch dass Evelyne eine so innige Freundschaft mit ihm pflegte, tröstet mich ungemein. Die Krankheit wollte sie zerstören, aber Evelyne lebt! Sie darf nun bei Gott sein – und ich glaube, sie ist jetzt sehr, sehr glücklich!»

Die ausführliche Geschichte aus der Sicht von Viktor Pfister finden Sie auf danieloption.ch

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Datum: 17.04.2021
Autor: Manuela Herzog
Quelle: Jesus.ch

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