«Ich sah keine Alternative zum Schwangerschaftsabbruch»
Helene Reicherter (Bild: zVg)
Nachdem
sich Helene Reicherter für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden hatte,
litt sie viele Jahre unter Schuldgefühlen. Wie sie davon frei wurde und neue Lebensfreude fand, erzählt sie hier.
1993: Helene Reicherter war schwanger. «Mein Mann
und ich freuten uns sehr auf das Kind.» In den ersten Monaten schien alles normal,
doch in der 20. Schwangerschaftswoche deutete die Frauenärztin ein Problem an.
Nach Betrachten der Ultraschallbilder sagte sie: «Etwas ist nicht gut. Wir
brauchen weitere Abklärungen.»
Schockierender Untersuchungsbefund
Der Entscheid, eine Fruchtwasserpunktion zu
machen, war für Helene bereits eine grosse Sache. «Die Erinnerung, wie wir zu
einem Spezialisten gingen, um die Untersuchung zu machen, liegt heute wie in
einem Nebel.» Dann lagen die Ergebnisse vor. Das ungeborene Kind hatte einen offenen
Rücken, einen Wasserkopf und stark deformierte Arme und Beine. Auch am Herzen
wurde eine Unregelmässigkeit festgestellt. «Mit diesen Informationen waren wir
auf uns gestellt und total überfordert.»
Helene war 23 Jahre alt, ihr Mann 25.
«Ich stand unter Schock und war gleichzeitig voller Trauer.» Auch ihre Eltern
waren sehr erschüttert und ebenfalls ratlos. «In dieser Zeit hätte ich jemanden
gebraucht, der sagt: 'Entscheide dich für das Kind, ich steh dir bei, das
kriegen wir schon irgendwie hin!'» Doch alle waren mit der Situation überfordert
und Helene spürte die ganze Last der Verantwortung auf ihren Schultern.
Unter Druck
Inzwischen war Helene in der 22.
Schwangerschaftswoche. «Ich wurde gedrängt, mich zu entscheiden. Man wollte
nicht, dass das Kind den Schwangerschaftsabbruch überlebt.» Der obligate Besuch
bei einem Psychologen half nicht weiter. Vergeblich hoffte sie auf irgendeine
Alternative zu einem Schwangerschaftsabbruch. «Jedes Gespräch mit einem Arzt
rief bei mir Bilder an ein völlig entstelltes Kind hervor.» Helene glaubte, keine
Wahl zu haben. «Ich fühlte mich sehr einsam!» Unter Tränen schritt Helene
stundenlang in ihrer Wohnung auf und ab. Auch ihr Ehemann Jürg litt.
«… und dann sah ich einen Menschen»
In der 24. Schwangerschaftswoche wurde die Geburt
eingeleitet. «Es war mir elend, ich war fast im Delirium.» Als es vorbei war,
wurde Helene gefragt, ob sie das Kind sehen wolle. Dies könne hilfreich sein,
um Abschied zu nehmen. «Wider meinen Empfindungen öffnete ich die Augen und sah
einen kleinen Menschen vor mir. Das Kind sah gar nicht so abnormal aus, es war
schon beinahe fertig gebildet, alles war dran, sogar Fingernägel und Haare
waren zu sehen.»
Das war der schwierigste Moment ihres Lebens. «Vielleicht
hätte es doch einen Weg gegeben!», schrie es in ihr. Sie fühlte sich ganz allein
– es war furchtbar! Ein Gedanke stand ihr in diesem Moment klar vor Augen: «Es
war falsch, was ich getan habe!» Ein Mensch durfte nicht leben, weil sie sich so
entschieden hatte.
In eisigen Klauen von Schuldgefühlen
Es war ein sonniger Frühlingstag, als Helene vom
Krankenhaus nach Hause ging. Normalerweise verspürte sie an solchen Tagen, an denen alles neu blüht und gedeiht, eine grosse Freude in sich, doch jetzt nicht. «Es
war wie eine dunkle Decke, die mir jegliche Freude raubte.» Das Leben ging
weiter, doch ein Schatten und eine Leere im Herzen blieben. In den folgenden
Jahren wurden drei gesunde Kinder geboren und ein Bauernhof übernommen. «Es war
eine gute Zeit, wenn auch mit sehr viel Arbeit.» Doch der dunkle Schatten blieb.
«Es gelang mir nicht immer, meine Schuldgefühle zu unterdrücken.»
«Menschen, die eine tiefe Lebensfreude
ausstrahlten»
Irgendwann folgten Helene und ihr Mann der
Einladung zu einem Kurs in einer Freikirche. «Dort sah ich Menschen, die eine
tiefe Lebensfreude ausstrahlten, eine Freude, die ich niemals zu finden glaubte.»
Den Kurs besuchten sie nicht zu Ende, doch eine Faszination blieb. Irgendwann
begannen sie, Gottesdienste zu besuchen. Nach einer Weile entschied sich Helene
für ein Leben mit Jesus – kurze Zeit später auch ihr Ehemann.
«Alleine zu Hause lud ich Jesus in mein Leben
ein», erzählt Helene. «Im selben Augenblick fiel die Traurigkeit von mir ab und
die innere Leere war auf einmal weg.» Für Helene stand zweifelslos fest: «Gott vergibt
mir, dass ich das Leben meines Kindes beendet habe.»
Ein neues, befreites Leben
«Es war unglaublich, Gottes Liebe zu erfahren.
Ich hatte die tiefe Gewissheit: Jesus verurteilt mich nicht! Egal wie schwer
meine Schuld auch gewesen ist, er hat sie von mir genommen. Nach und nach
konnte ich mir auch selbst vergeben, was mir einen tiefen Frieden und eine Ruhe
brachte.» Heute verspürt Helene viel Barmherzigkeit für Menschen, die unter irgendwelchen
Schuldgefühlen leiden. Sie ist überzeugt: «Egal, welche Schuld du auf dich
geladen hast, wende dich an Gott, er wird dir vergeben.»
Heute empfindet sie zudem tiefen Respekt gegenüber
Eltern eines behinderten Kindes.
Hilfe für Menschen in schwierigen
Lebenssituationen
Die Erinnerung an das Gefühl der Einsamkeit und
Überforderung im schwierigsten Moment ihres Lebens bewegte Helene dazu, Menschen
in ähnlichen Situationen Unterstützung anzubieten. Deshalb machte sie eine Weiterbildung
zur Sozialmanagerin. «Aktuell haben wir in unserem Haus ein Studio eingebaut,
in dem Menschen, die Hilfe bei ihrer Alltagsbewältigung benötigen, wohnen
können. Das kann eine schwangere Frau sein, eine Mutter mit Kind oder Personen
mit psychischen Einschränkungen. Wir werden diese Leute individuell begleiten
und betreuen.»