Die aufwärts strebende Nation Äthiopien gehört
immer noch zu den ärmsten Ländern der Welt. Menschen mit Behinderungen werden als
gesellschaftlicher Abschaum oder Verfluchte behandelt; nur zögerlich ändert
sich diese Ansicht. Doch es gibt Hoffnungsträger wie Melese Heramo,
der es von der Strasse in eine leitende Position schaffte.
Melese Heramo (rechts) mit einem Projektmitarbeiter
Melese Heramo (28) ist ein dynamischer Typ, der mit
Krücken unterwegs ist; und oft mit dem Motorrad. Er lacht viel und bringt Humor
in die gesellige Arbeitsrunde. Seine Stadt Soddo liegt in der Region der südlichen
Völker von Äthiopien.
Dabei war sie im Jahr 2016 mit rund 153'322 Einwohnern und 14 Sprachen eine der
Grösseren und unter anderem Sitz des römisch-katholischen Apostolischen
Vikariats.
Der Livenet-Redaktor lernte den Gründer und
Projektleiter Melese Heramo kennen (Livenet berichtete), der seine eindrückliche
Lebensgeschichte weitergab:
«Ich heisse Melese Eyob Heramo. Ich wuchs in einem
kleinen äthiopischen Bauerndort auf. Mit fünf Jahren wurde ich gelähmt. Ich konnte
meinen Eltern nicht mehr bei der täglichen Feldarbeit helfen. Meine Familie
sagte, ich sei von bösen Geistern besessen, ich sei ein nutzloser Esser, der
nicht verdienen helfen kann.
Sie schickten mich weg auf die Strasse zum Betteln. Es
war ein trostloses Leben. Auf den Knien kroch ich jeweils über den Steinboden,
hatte kaum zu Essen, kein Dach über dem Kopf. Die Dorfbewohner verachteten mich,
ich war ganz auf mich allein gestellt. Eigentlich wollte ich mir das Leben
nehmen.»
Vom Bodenkriechen zum Aufrechtgehen
«Doch dann erzählte mir jemand vom entfernten «Soddo
Christian Hospital». Ich solle dorthin gehen und um kostenlose Krücken bitten.
Ich war damals 13 Jahre alt und das war meine letzte Chance. Auf Knien
kriechend, an einem Stecken vom Wald humpelnd, erreichte ich nach zwei Tagen
Marsch schmutzig und entkräftet das Spital. Der Wächter schickte mich zuerst
weg, ich sei ein Dieb und schmutziger Bettler. Doch ich liess mich nicht
abwimmeln. Nach einer Nacht auf der Strasse, schlich ich mich am folgenden Tag
erneut durchs Eingangstor und es gelang mir, einen Termin beim Orthopäden zu
bekommen. Dieser hörte mir zu, sagte meinen Namen, untersuchte mich.
Schliesslich wurde ich mehrmals operiert und ins Programm für stark unterernährte
Patienten aufgenommen. Anschliessend erhielt ich die ersten Krücken und
Beinschienen – und lernte erstmals aufrecht gehen!»
Zum Physiotherapeuten
ausgebildet
«Nach drei Monaten wollte mich der Chirurg nach Hause
entlassen, doch ich wusste nicht wohin und was tun. Der Chirurg erbarmte sich
meiner, ich durfte im Spital bleiben und mitarbeiten. Zuerst musste ich Gaze
falten, dann brachte mir ein Arzt Englisch bei, schliesslich durfte ich eine
Ausbildung zum Physiotherapeuten machen und erhielt ein eigenes Einkommen. Ich
arbeitete nachher elf Jahre dort und studiere jetzt Management.»
«Emmanuel – Gott
ist mit uns!»
«Ich bin so dankbar, dass Gott meine Not gesehen und mein
Schicksal zum Guten gewendet hat. Darum ist es meine Vision, dass noch Tausende
von behinderten Bettlern auf den Strassen meines Landes Hilfsmittel erhalten,
Arbeit finden, genug zu Essen haben und ein Dach über dem Kopf – und dadurch neue
Lebensperspektiven! Ich habe eine kleine Selbsthilfegruppe gegründet und ihr
den Namen «Emmanuel» gegeben, was heisst: 'Gott ist mit uns und kümmert sich um uns'. Unser Ziel ist es, der Welt zu zeigen, dass behindert sein nicht unnütz
sein bedeutet! (Slogan: disability is not inability). Heute freue ich mich besonders, wenn unsere Teilnehmer
anfangen, ein eigenes Einkommen zu haben und für ihre Familien zu sorgen, auch
wenn es nur wenig ist; und natürlich, wenn Gehbehinderte nach der Behandlung
gehen können oder durch einen Rollstuhl mobil werden.»
Aktuell gehören rund 40 behinderte
Männer und Frauen zu den MitarbeiterInnen von «Emmanuel». Die Männer stellen
Hilfsmittel (Krücken, Rollstühle) her, die Frauen produzieren und verkaufen
Lebensmittel. Einzelne Behinderte arbeiten als Schuhputzer und
Strassenverkäufer auf den Strassen der Stadt. Alle erhalten Essen und
Unterkunft. Es herrscht Dankbarkeit und Freude unter den Beteiligten.
Melese Heramo sagt lächelnd «Ciao», packt seine Krücken
auf das Motorrad und fährt auf der lärmig-lebendigen Strasse Soddos davon.