Er nannte sie «Mama»

Pastora Mira García versorgte den Mörder ihres Sohnes

Kennt Vergebung Grenzen? Für die Kolumbianerin Pastora Mira García nicht. Dabei hätte sie allen Grund dafür. Kolumbianische Guerillas töteten ihren Vater und ihre Kinder. Trotzdem kümmerte sie sich um die Mörder ihrer Familie. Hier erzählt sie ihre Geschichte.
Pastora Mira García
Mira García gibt ein beeindruckendes Zeugnis über die Vergebung

Am 4. April 1960 wurde mein Vater Francisco Mira von politischen Gegnern getötet. Ich war vier Jahre alt, als neun seiner Kinder gezwungen wurden, bei seiner Ermordung zuzusehen. Sie schubsten meine Mutter beiseite, erschossen meinen Vater und köpften ihn dann vor unseren Augen. 1999 erlitt meine Mutter einen Herzinfarkt und starb, als militante Kämpfer die Tür der Nachbarn eintraten. 2001 nahm meine Tochter Paola ihre fünfjährige Tochter mit sich zur Arbeit an einer Landschule, als sie von militanten Gruppen gefangen wurden. Zwei Tage später wurde das Mädchen zurückgebracht, also meine Enkeltochter. Die Familie befand sich im Dunkeln und wusste nicht, was mit Paola geschehen war. Wir fanden ihren Körper, nachdem wir sieben Jahre lang durch die Felder und Berge gewandert waren.

Auch mein jüngerer Bruder wurde auf der Autobahn angehalten und verschleppt – weder er noch die Leute, mit denen er reiste, tauchten je wieder auf. Am 4. Mai 2005 kidnappte eine illegal bewaffnete Gruppe meinen 18-jährigen Sohn und hielt ihn 15 Tage lang gefangen. Dann ermordete man ihn und liess ihn am Strassenrand liegen. Zu dem Zeitpunkt sagte ich: «Herr, ich gebe ihn dir zurück!» Nicht jeder besucht die Universität, aber wir besuchen alle die «Uni des Lebens».

Schuld ist schlimmer als Schmerz

Bevor meine Mutter starb, arbeitete ich in einem Dorf und hörte dort eines Tages den Namen des Mörders meines Vaters. Ich fragte meine Mutter, ob das der Mann war, der Papa getötet hatte, und sie antwortete: «Ja, meine Tochter, aber wir haben kein Recht, irgendetwas zu tun oder ihm wehzutun.» Die Suche nach ihm brauchte einige Zeit, aber als ich letztlich zu seinem Haus kam, traf ich dort keinen Mann an, sondern ein menschliches Wrack. In der Situation, in der er sich befand, wäre es einfach gewesen, sein Essen zu vergiften oder sein Leben auf andere Weise zu beenden – doch ich hatte leider diese Antwort meiner Mutter erhalten. Auf dem Rückweg weinte ich bitterlich und entschied mich, ihn regelmässig zu besuchen, gemeinsam mit anderen Leuten, die Kranke versorgen. Ich wollte ihm helfen, gesund zu werden, ihm Essen und Kleidung bringen. Das taten wir für lange Zeit.

Ich hatte eine wichtige Lektion gelernt. Die Mutter des Mörders meines Vaters fragte ihn eines Tages: «Weisst du, wer die Frau ist, die sich um dich kümmert? Sie ist eine der vielen Waisen, die du zurückgelassen hast. Sie ist die Tochter von Pancho Mira.» Nie wieder schaute er mir in die Augen. Ich verstand, dass Schuld schlimmer ist als Schmerz.

Nicht Auge um Auge…

Im Mai 2005, wenige Tage nach dem Mord meines Sohnes, sah ich einen jungen Mann, der zu einer illegalen Gruppe gehörte. Er war verletzt und schrie vor Schmerz. Wir brachten ihn nach Hause. Er hatte Hunger; ich gab ihm zu Essen und Kaffee, dazu eine kurze Hose und ein T-Shirt, das meinem Sohn gehört hatte. Eine befreundete Krankenschwester kam und wusch seine Wunden. Dieser junge Mann legte sich auf das Bett meines Sohnes, sah die Fotos an der Wand und fragte: «Warum hängen da Fotos von dem Typ, den wir vor ein paar Tagen getötet haben?» Meine Töchter und ich waren schockiert und der Junge begann zu weinen und zu erzählen. Ich flehte Gott an, dass er mir hilft, nicht mit dem Herzen einer Mutter zu fühlen und nicht mit den Ohren einer Mutter zu hören. Zum Schluss sagte ich dem jungen Mann: «Dies ist dein Bett und das ist dein Schlafzimmer!» Der Junge weinte und redete, es war als würden wir ihn schlagen. Ich reichte ihm das Telefon und sagte ihm: «Eine Mutter da draussen sorgt sich um dich, ruf sie bitte an.»

Ich ging zu meinen Töchtern, die mir sagten: «Mama, er kann nicht lebend hier raus gehen.» Ich antwortete nur: «Sagt mir, was ich tun soll. Das einzige, was ich dafür von euch verlange, ist, dass ihr mir garantiert, dass wenn ich wie er zu einem Mörder geworden bin, mein Sohn wieder hier bei uns sitzen wird…» Sie verstanden, dass es nicht Auge um Auge oder Zahn um Zahn sein darf.

… sondern «Liebt einander»

Der Junge ging weg, kam aber im selben Jahr im August wieder, nicht länger Mitglied der Gruppe und ohne Waffen. Wenn er zu uns kam, dann begrüsste er mich mit dem Wort «Mama!» Im Dezember starb er in einem Vorfall, bei dem es um Drogen ging. Seine Mutter kam, um seinen Körper zu holen und ich hatte die Möglichkeit, ihr zu helfen, den Körper zurück in ihr Dorf zu bringen.

Es gibt ein grundlegendes Prinzip: «Liebt einander.» Herr, vergib demjenigen, der mich verletzt hat; heile mich und mache es so, dass ich ihm durch deine Vergebung wieder in die Augen schauen kann und in ihm einen Menschen sehe, der das Recht hat, Fehler zu machen – und zu wissen, dass er derjenige ist, der gescheitert ist.

Seit 13 Jahren setzt sich Pastora Mira García aktiv für die Versöhnung zwischen Opfern und Tätern in Kolumbien ein. Sie ist davon überzeugt, dass nur das volle Verständnis von dem, was geschehen ist, wahre emotionale und geistliche Heilung bringen kann.

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Datum: 31.08.2018
Autor: Pastora Mira García / Übersetzung: Rebekka Schmidt
Quelle: acinternational.org

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