„Unser Leben stand auf Messers Schneide“

Königsberg heisst heute Kaliningrad
Shimon Stein

„Entweder beide Familien überleben oder beide sind tot.“ Diesen Eindruck hatte Horst Symanowski, heute 91-jährig, bei der Aufnahme der jüdischen Familie Karmeinsky in die eigene Wohnung. Das gleichaltrige Ehepaar mit der kleinen Tochter versteckte sich im Jahr 1944 mehrere Monate lang bei dem Pfarrer der illegalen Bekennenden Kirche in Königsberg.

Am letzten Donnerstag hat der israelische Botschafter Shimon Stein die Auszeichnung „Gerechter unter den Völkern“ der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem an Symanowski und postum an seine verstorbene Frau Isolde in Mainz überreicht. „Das Verstecken von Juden war die Rettung unserer selbst“, sagt Symanowski. Die Kirche habe geschwiegen, als im Jahr 1933 SPD und KPD verfolgt wurden, als die jüdischen Geschäfte boykottiert wurden, als die Gewerkschaften zerschlagen wurden, bei der Reichspogromnacht und beim Überfall auf Polen. „Wie sollten wir nach dem Krieg noch in den Spiegel schauen können, ohne uns anzuspucken?“

Mitglieder der Bekennenden Kirche, dem oppositionellen Teil der evangelischen Kirche, wirkten als Schleuser. Sie brachten Juden von Berlin nach Schlesien, Hinterpommern, West- und Ostpreussen. Der Bombenkrieg raubte den Verfolgten ihre Verstecke. Symanowski durfte als Kriegsverletzter den Zug nach Berlin benutzen und geleitete seiner Erinnerung nach 30 bis 40 Juden zu ihren Beschützern. Die Bekennende Kirche stattete die Verfolgten mit falschen Ausweisen, Lebensmittelkarten und Geld aus. „Unser Leben stand auf Messers Schneide“, sagt Symanowski. Wer Juden versteckte, habe mit Konzentrationslager oder Tod rechnen müssen.

Symanowski erzählte jahrzehntelang nichts über seine Hilfe in den letzten Kriegsjahren. „Nach 1945 sass ganz Deutschland bis zum Hals in Persil-Lauge und wusch sich rein“, sagt der Pfarrer. „Auf einmal gab es keine Nazis mehr.“ Auf diese Ebene der Rechtfertigung wollten sich die Symanowskis nicht begeben. Der Pfarrer und seine Frau zogen eine andere Konsequenz: „Wir müssen da zur Stelle sein, wo Menschen diskriminiert werden.“ Symanowski baute ab 1948 die Gossner-Mission in Mainz-Kastel auf.

Fünf Jahre lang arbeitete er als Hilfsarbeiter in einem Zementwerk und setzte sich für die Mitbestimmung der Arbeiter ein, bis er deswegen gefeuert wurde. „Statt mündige Christen habe ich entmündigte Arbeiter getroffen“, beschreibt er sein Schlüsselerlebnis. Symanowski eröffnete das „Seminar für kirchlichen Dienst in der Industriegesellschaft“, in dem er Theologen mit der Arbeitswelt vertraut machte. Als die KPD verboten wurde, besuchte der Pfarrer kommunistische Stadträte im Gefängnis und warb für die Wiederzulassung der Partei.

Symanowski organisierte den ersten Mainzer Ostermarsch gegen Atomwaffen und war Mitbegründer des „Komitees zur Verteidigung der Grundrechte ­ gegen Berufsverbote“. Der ehemals drei Mal von der Gestapo inhaftierte Pfarrer wurde vom Verfassungsschutz überwacht, der nach Auskunft des rheinland-pfälzischen Innenministers dessen persönliche Daten bis in die Gegenwart speichert.

Die Hilfe der Symanowskis für verfolgte Juden kam erst durch die Bremer Historikerin Maria von Borries an die Öffentlichkeit. Sie spürte Mutter und Tocher Karmeinsky in den USA auf, die über ihre Rettung berichteten. Der Vater war in Königsberg zurückgeblieben und nach Augenzeugenberichten wenige Stunden vor Einmarsch der Roten Armee verraten und erschossen worden.

Freunde von Symanowski informierten Yad Vashem. Nach vierjähriger Prüfung und einer zunächst erfolgten Ablehnung nahm die Holocaust-Gedenkstätte Horst Symanowski und seine verstorbene Frau Isolde in die Reihe der „Gerechten unter den Völkern“ auf. Die Auszeichnung von Yad Vashem verstehe er als Ehrung aller Mitstreiter für Humanität und Zivilcourage, sagt der Pfarrer. Sein Resümee mit 91 Jahren: „Es war ein beschissenes, wunderschönes Leben.“

Datum: 09.07.2003
Quelle: Epd

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