Elternglück

Zerstört in einem Augenblick

Thomas und Vreni Herwig auf ihrem Bauernhof
Familie Herwig

Der Monat November steht jährlich im Zeichen des Totengedenkens. Vreni und Thomas Herwig aus Soyhières, 40 Kilometer südlich von Basel, brauchen dazu keine Erinnerung im Kalender. Sie denken jeden Tag an den Tod. Seit jenem Tag, als zwei ihrer vier Kinder auf dem Bauernhof der Familie bei einem Unfall im Heulager ums Leben kamen.

Wenn der Begriff Idylle nicht so abgenutzt wäre, beim Hof der Herwigs und den umliegenden Weiden würde er passen. Das Anwesen liegt abgeschieden von Städten und Schnellstrassen, es ist nur mit einem Geländewagen zu jeder Jahreszeit über eine schmale, steile Holperstrecke zu erreichen. Eine kleine heile Welt am nördlichsten Zipfel der französischen Schweiz. Thomas und Vreni haben sich dieses Fleckchen Erde mit 93 Hektar landwirtschaftlicher Fläche bewusst herausgesucht. Der gelernte Elektrotechniker sattelte 1989 gegen den Rat vieler Freunde auf die Landwirtschaft um.

Zerrüttete Ehe

Nach einem Auslandsjahr in San Diego bei Los Angeles hatte er vom Stadtleben die Nase voll. Er wollte ein Leben mit Frau und Kindern, die in einem natürlichen Umfeld aufwachsen. 1989 heiratet er die bildhübsche Vreni, Verkäuferin in der Modebranche. Noch im selben Jahr wird die erste Tochter geboren, Sina. Es folgen 1992 Elena, 1995 Jan und am Silvestertag 1996 Flurin. Im Mai 1994 übernehmen sie bei Soyhières den Bauernhof, damals eine Ruine. Sie machen sich an den Wiederaufbau von Haus und Stall, bewältigen zwischendrin zwei Geburten, bieten darüber hinaus mehrere Jahre lang eine stationäre Therapie für Heroin- und Kokainsüchtige nach dem Drogenentzug an. Eine unglaublich anstrengende Zeit. Die Ehe zerrüttet, weil sich die beiden nicht mehr ausreichend umeinander kümmern.

Herzattacke belebt Glauben

Das Paar kommt aus einer volkskirchlichen Tradition. Das Tischgebet führen sie ein, als die Kinder es verstehen können. Aber ein lebendiger Glaube ist das nicht. Der kommt erst durch einen Süchtigen, der beginnt, in der Bibel zu lesen und der seine gastgebende Familie mit Fragen über Gott und die Welt bombardiert. Zwei Tage nach der Geburt seines Jüngsten erleidet Thomas Herwig dann eine Herzattacke. Sie mündet in eine geistliche Erneuerung. „Gott hat mir fast buchstäblich das Herz durchbohrt, damit ich verstehe, was am Kreuz auf Golgatha geschehen ist“, erinnert er sich.

Das Bild am Vorabend des Todes

Von nun an sollte Jesus Christus den ersten Platz in seinem Leben haben. Auch Vrenis Glaube wurde durch die Ereignisse neu entfacht. Die vier Kinder empfindet das Paar als grossen Segen. Am letzten Februarwochenende 2001 erleben sie eine innige Gemeinschaft. Draussen schlechtes Wetter, niemand zu Besuch, keine Einladung zu Freunden – die Familie bleibt lange im Bett, spielt, der Vater erzählt Geschichten, alle haben Spass. Elena, die Achtjährige, beginnt am Sonntag abend etwas zu malen. Sie, der normalerweise ein Bild gar nicht bunt genug sein kann, wählt an diesem Abend nur einen schwarzen Stift. Sie malt den Hof mit Garten, die Berge, eine Kirche, an der ein Ballon aufsteigt. Darüber ein strahlender, offener Himmel. Eine Zeichnung, die eine seltsame Ahnung ausdrückt.

„Es kann nichts passieren“

Nach diesem Wochenende kommt der Rosenmontag. Die drei jüngeren Kinder erleben in der Schule ein lustiges Verkleidungsfest in selbstgemachten Kostümen. Gegen 16.45 Uhr kehrt Vreni mit ihnen auf den Hof zurück. Sina, die älteste, ist noch in der Schule. Die Mutter greift zum Mehl, setzt einen Brotteig an. Die Kleinen fragen, ob sie vor dem Abendessen im Stall spielen dürfen. Sie nutzen dort oft mit Roller und Bobby-Car den Mittelgang als Rennstrecke. Vreni macht ihrem Zwerg Flurin noch die Jacke zu. Sie ist sicher: Beim Spielen kann nichts passieren.

Kinder in der Falle

Was dann geschieht, lässt sich schwer rekonstruieren. Die Kinder gehen in den Raum, in dem das Heu belüftet wird. Das dürfen sie eigentlich nicht – und an dieses Verbot haben sie sich vor diesem Tag immer gehalten. Der Raum ist teilweise leer, weil das Vieh gegen Ende des Winters viel von dem hartgepressten Heu aufgebraucht hat. Im Lager stehen aber immer noch meterhoch gepresste Ballen. Ausgerechnet in dem Moment, als die Kinder den verbotenen Raum betreten, gerät der Turm mit dem gepressten Heu ins Wanken und stürzt ein. Bis heute weiss niemand warum. Es ist wie eine Falle, die zuschnappt. Für Elena und Flurin gibt es kein Entkommen. Das steinhart verdichtete Material begräbt sie unter sich. Den dritten, Jan, verfehlen die Massen nur um Haaresbreite.

Heu so hart wie Stein

Der entsetzte Junge rennt ins Haus zu seiner Mutter. „Mama, Mama, ich habe niemanden mehr zu spielen“, schreit er. Vreni eilt in den Stall, in den Belüftungsraum, sieht die übereinandergeworfenen Ballen, ahnt den Zusammenhang. Ihre Hände krallen sich in das harte Material – vergeblich. Sie kann nichts bewegen. Schnell zurück ins Haus, sie ruft ihren Mann, der gerade die Älteste von der Schule holt, auf dem Mobiltelefon an, trommelt dann die Nachbarn zusammen. Einer alarmiert sofort die Feuerwehr. Minuten später stehen über 30 Menschen auf dem Hof. Als Vreni sieht, dass sie nichts ausrichten kann, geht sie mit Jan ins Haus, betet laut, singt mit zitternder Stimme Lieder.

Die Feuerwehrmänner müssen sich übergeben

Währenddessen kämpfen mehrere Männer mit dem Heu. Mit Gabeln stechen sie in die Ballen. Dadurch quillt das Material auf, die Berge werden höher statt kleiner. Es dauert eine Ewigkeit, bis ein Helfer auf Flurin stösst. Er drückt dem Vater den leblosen Jungen auf den Arm. Der steigt über die Heuberge nach draussen, versucht Wiederbelebung – vergeblich. Drei Minuten später ein Schrei – „Wir sehen Elenas Arm“. Der Vater kämpft sich übers Heu zu dem Ort, bekommt nun sein Mädchen auf den Arm gedrückt, klettert wieder hinaus, startet auch hier die Reanimation – vergeblich. Nach dem chaotischen Lärm herrscht plötzlich Stille auf dem Hof. Mehrere Feuerwehrmänner haben sich übergeben, weil sie die Situation nicht ertragen konnten.

„Sie haben’s geschafft“

Mitten in der Rettungsaktion durchfährt es Thomas Herwig wie ein Blitz – er fühlt für einen Sekundenbruchteil Wärme, Licht, einen Strahl aus der Ewigkeit. Er spürt, dass seine Kinder bereits „drüben“ angekommen sind. Nachdem die Leichname vor ihm liegen, geht er zu seiner Frau ins Haus und sagt: „Sie haben’s geschafft.“ Zwei Stunden später fahren sie ihre verunglückten Kinder ins Krankenhaus. Thomas hat Elena auf dem Arm, Vreni trägt Flurin. Der Junge und das Mädchen sehen aus wie schlafend. Offensichtlich sind sie einen schnellen Tod gestorben, haben keinen quälenden Kampf durchlitten. Vreni: „Ich dachte, es ist wie bei Schneewittchen – gleich wachen sie wieder auf.“ Bis Mitternacht bleiben Eltern und Geschwister bei den Leichnamen, dann fahren sie nach Hause.

Trost bei Gott

Es folgen unzählige Telefonate durch die Nacht. Am nächsten Morgen geht der Vater mit Sina und Jan zur Schule, spricht in deren Klassen über das unglaubliche Geschehen, betet mit den Kindern. Die Menschen in Soyhières staunen. Auch bei den Kondolenzanrufen geschieht es, dass die Eltern mehr die Tröstenden sind als die, die getröstet werden. Denn die beiden wissen ihre Kinder bei Gott. Der tapfere Umgang mit der Katastrophe ist vielen geradezu ungeheuer. „Das macht denen nichts aus, die sind in einer Sekte“, wird getuschelt.

Mehr als 700 Menschen bei Beerdigung

Die Beerdigung wird zu einer Grossveranstaltung. Über 700 Menschen kommen. Die Kirche kann die Menschen nicht fassen, vor dem Portal stehen viele Trauernde. Die Feuerwehr drückt jedem einen gasgefüllten Luftballon in die Hand. Gemeinsam lassen die Besucher die bunten Ballons zum Himmel steigen. Eine Erinnerung auch an das Bild, das Elena am Morgen ihres Todestages fertiggestellt hat.

Von der Hoffnung reden

Der Unfalltod der beiden Kinder ist Gesprächsthema in jedem Haus. Herwigs werden beobachtet. Dass sie unter ihrem furchtbaren Schmerz nicht zerbrochen sind, dass sie bewusst auf dem Bauernhof bleiben, der sie tagtäglich an die gemeinsamen Stunden mit den Kleinen erinnert – das ist für die einen unverständlich, für die anderen ein beeindruckendes Glaubenszeugnis. Das Ehepaar hat unzählige Gelegenheiten genutzt, von Gott zu erzählen, vom Kreuz, von der Hoffnung auf das ewige Leben.

„Lobgesänge in der Nacht“

Trotz allen geistlichen Trostes - der Verlust hinterlässt eine sehr tiefe Narbe. „Auf die Frage nach dem Warum gibt es für uns keine Antwort, aber wir stellen uns diese Frage auch fast nie“, stellt Vreni fest. Die Eheleute sind dabei erstaunt, wie Gott sie und die beiden anderen Kinder durch die vergangenen Monate getragen hat. Während mancher Feuerwehrmann nach dem Rettungseinsatz psychologische Betreuung brauchte, haben die Eltern die Situation im Vertrauen auf Gott meistern können. Thomas Herwig geht immer wieder ein Vers aus dem Buch Hiob (Kapitel 35, 10) durch den Kopf, wo von diesem Gott die Rede ist, „der mir Lobgesänge gibt in der Nacht“. In der Dunkelheit des Verlustes von Elena und Flurin sind die Eltern ihrem Schöpfer noch näher gekommen.

Datum: 27.11.2002
Autor: Marcus Mockler
Quelle: idea Deutschland

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