Andi Weiss

«Ich weiss, wie rau das Leben uns begegnen kann»

«Ich mache Musik für Menschen, die sich im Leben schon eine blutige Nase geholt haben», sagte der Sänger, Komponist und Buchautor einst. Dieser Leitsatz macht – auch durch seine neusten Songs – einen Unterschied für immer mehr Menschen.
Andi Weiss (Bild: andi-weiss.de)
Andi Weiss am Flügel (Bild: andi-weiss.de)

Andi Weiss, was muss man über deine neue Single «Licht am Ende des Tunnels» wissen?
Andi Weiss:
Ich habe während den Corona-Lockdowns über 40 Onlinekonzerte gespielt. Mir war es wichtig in diesen verrückten Zeiten auch weiterhin für die Menschen da zu sein und sie zu ermutigen. Eigentlich waren es keine Konzerte. Es war ein Austausch mit Geschichten und Liedern. Die Konzertbesucher haben mir im Vorfeld ihre Geschichten und Anliegen geschickt. Ich habe sie vorgelesen. Währenddessen lief ein Chat-Fenster und die Besucher beteiligten sich mit ihren Beiträgen und ich spielte dazu meine Lieder. Freud und Leid wurde geteilt, als würden wir uns schon lange kennen.

Egal wo ich seitdem im deutschsprachigen Raum ein Konzert gespielt habe, kam mindestens eine Person, die in dieser Zeit Teil dieser Community geworden war, und bedankte sich dafür. Neben schönen Momenten waren auch immer wieder grosse Grenzerfahrungen Thema: Da wurde von Chemotherapien erzählt und von beruflichen Krisen, Abschiede und Trennungen, Einsamkeit und Ängste. All das durfte in diesen Zeiten – donnerstags um 20 Uhr – Raum haben. Renate war auch Teil der Community. Sie nahm schon länger das Angebot meiner Lebensberatung telefonisch wahr. Eines Tages bekam sie eine schlimme Diagnose. Sie hatte ich vor Augen, als dieses Lied bei einem Waldspaziergang entstand. Sie hätte sich gewünscht, noch ein Konzert von mir zu besuchen, aber ihr Zustand wurde immer schlechter. Sie war aber nicht mehr in der Lage. Ich beschloss kurzerhand, in den nächsten Tagen während einer Tour einen Abstecher bei ihr im Hospiz zu machen und ihr auf der Krankenhauskapelle der Palliativstation noch ein kleines Privatkonzert zu geben. Als ich danach beim nächsten Onlinekonzert das Lied spielte, konnte sie noch mit dabei sein und es hören. War aber schon sehr schwach. Wenige Tage später verstarb sie. Dietrich Bonhoeffer betete in seiner Zelle: «In mir ist es finster … aber bei Dir ist Licht!» Das gilt hier – in diesem Leben – und weit darüber hinaus. 

Kannst du ein, zwei Songs, die dir besonders am Herzen liegen, kurz vorstellen?
Das ist echt schwer. Denn jeder einzelne Song ist mir ein wertvolles und wichtiges Anliegen. Sonst hätte es der Song nicht auf die Platte geschafft. Ich glaube, dieses 8. Studioalbum ist nicht nur mein vielfältigstes, sondern auch mein persönlichstes Album. Jeder hat seine eigene Krisengeschichte. Ich habe meine Erfahrungen der letzten Jahre in Lieder verwandelt. Deshalb war es mir auch wichtig, wieder echte Lebenshilfe auf der CD anzubieten. Das Cover von CD und Buch ist ein dunkler Hintergrund auf dem ein bunter Vogel triumphiert. Ich liebe das Zitat: «Glaube ist wie der Vogel, der schon singt, obwohl es noch Nacht ist.» Ich glaube, Leben ist gestaltbar – auch Krisen. Aber ohne meinen Glauben könnte ich das nicht. Daraus ist das Lied «Du bist der Vogel, der schon im Dunkeln singt» entstanden. Oder «Es geht gut aus» habe ich Mitte 2019 geschrieben und war irgendwie völlig verwundert, weil in der Zeit für mich keine Krise weit und breit zu sehen war.

Dann kam Winter 2020 und dieses Lied hat mich persönlich durch die nächsten Jahre getragen. Ganz besonders ist für mich aber auch das Lied: «Alles steht Kopf». Mitten in den letzten Arbeiten an den Texten der neuen CD bricht im letzten Juli das Leben in mein nahes Umfeld grausam rein. Ich habe mich gefragt, ob der Titel «Weil immer was geht» in manchen Momenten des Lebens nicht zynisch ist und Menschen verhöhnt, die mitten im Leben an die Grenzen des Lebens gestossen werden. Und doch… «Weil immer was geht» ist kein blinder, liebloser Aktionismus, kein billiges «Alles wird gut», denn manchmal ist im Leben eben nicht alles gut. Aber ich glaube, auch mitten in aller Ohnmacht sind wir als Menschen eingeladen, uns entsprechend zu verhalten.

Und so können wir doch noch etwas tun: im Bleiben und Schweigen. Dietrich Bonhoeffer schrieb: «Ich möchte von Gott nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft, nicht also bei Tod oder Schuld, sondern im Leben und im Guten des Menschen sprechen. An den Grenzen scheint es mir besser, zu schweigen und das Unlösbare ungelöst zu lassen.» Deshalb habe ich den Titel so gelassen. In aller Demut. Und so sieht man: Jedes einzelne Lied ist eine Auseinandersetzung mit meinem ganz persönlichen Erleben und so ist noch nie eines meiner Lieder am Schreibtisch entstanden – sondern mitten im Leben. Mir ist die inhaltliche Auseinandersetzung immer ganz wichtig. Deshalb habe ich auch zur CD ein Impulsbuch unter dem gleichnamigen Titel herausgebracht: «Weil immer was geht». Mit vielen Impulsen für scheinbar ausweglose Situationen.

Welches Thema bewegt dich generell – und weshalb?
Auf der Bühne, in meinen Büchern und in meinen Beratungsgesprächen geht es mir immer um die Frage: Wie ist Leben TROTZDEM möglich? Es gibt Momente, da geht scheinbar nichts mehr weiter. Da begegnen uns grosse, starke Wörter wie Leid, Schuld, Tod, die sich uns mitten im Leben in die Quere stellen, uns den Weg versperren und Leben in diesem Moment schier unmöglich machen. Die Angst schleicht sich ein, Ungewissheit macht sich breit. Und die grosse Frage bleibt: Wie soll es jetzt weitergehen? Wie gestalte ich dieses Leben trotzdem? Der KZ-Überlebende und Psychotherapeut Viktor Frankl definierte einmal diese «tragische Trias», die jedes Menschenleben betrifft. Diese drei Tatsachen, denen jeder Mensch in seinem Leben begegnet. Er schrieb: «Das Leiden, die Not gehört zum Leben dazu wie das Schicksal und der Tod. Sie alle lassen sich vom Leben nicht abtrennen, ohne dessen Sinn nachgerade zu zerstören. Not und Tod, das Schicksal und das Leiden vom Leben abzulösen, hiesse dem Leben die Gestalt, die Form nehmen. Erst unter den Hammerschlägen des Schicksals, in der Weissglut des Leidens an ihm, gewinnt das Leben Form und Gestalt.» Frankl lädt uns ein, auch die grossen Schicksalsschläge als Aufgabe und Herausforderung anzunehmen und somit «Leid in Leistung, Schuld in Wiedergutmachung und die begrenzte Lebenszeit in einen verantwortlichen Lebensstil zu verwandeln.»

Ich freu mich so über die vielen positiven Rückmeldungen zu unseren verschiedenen Impulsbüchern, meinen Alben und den Konzerten. Viele Menschen berichten mir, wie sie die Impulse und Lieder gerade durch diese Zeiten tragen. Ich bin bewegt, wie Firmen, Kirchengemeinden, Diakoniestationen, Schulen und so weiter unsere Impulse an die Mitarbeiter verschenken und diese sich dann wieder bei uns melden. Ich sehe es als meine persönliche Berufung an, mit den Menschen an diesem grossem TROTZDEM zu arbeiten und sie in dieser grossen und herausfordernden Aufgabe zu begleiten.

Welche Feedbacks nach einem Auftritt bewegen Sie?
Ich bin wirklich sehr bewegt, wie meine gesungenen Geschichten wieder neue Geschichten schreiben. Ich bekomme sehr viel Post von Menschen, die mir erzählen, wie sie meine Musik gerade durch diese schwierigen Zeiten trägt. Da schreibt mir eine Frau, dass es der Wunsch ihrer Mutter war, mit dem Lied «Nie allein» zu sterben. Sie sass bei ihr lange am Sterbebett und ihre Mutter bat um dieses Lied. Die Tochter stellte es ein und beide beteten zusammen den Psalm 23. Dann hielten sie ihre Hände und während dem Lied durfte die Mutter friedlich gehen. Sehr oft bekomme ich Briefe von Menschen, die mit Depressionen zu kämpfen haben und schon so oft stand der Satz am Ende: «Ohne Ihre Musik würde ich nicht mehr leben!» Das berührt mich zutiefst.

Gibt es ein besonderes Erlebnis, dass jemand mit einem deiner Songs erlebte?
Auf meinen Konzertreisen erlebe ich auch immer wieder bewegende Begegnungen. Einmal war ich in der Nähe von Berlin zu einer Festveranstaltung in einer sozialtherapeutischen Einrichtung für Suchtkranke zu Vorträgen und einem Konzert eingeladen. Während des Soundchecks kommt ein Mann ganz aufgeregt auf mich zu. Hektisch und aggressiv verpulvert er seine Worte, sein Körper bebt, angespannt kreist er um mich herum und redet. Er redet wie ein Wasserfall, fällt sich selbst ins Wort und die Menge der Wörter pro Minute bringen selbst mich zum Stauen. Er erzählt mir, dass er psychische Erkrankungen sammelt wie andere Briefmarken. In wenigen Minuten erfahre ich von den vielen Untiefen seiner Biografie, von seiner schwierigen und dunklen Vergangenheit und der damit verbundenen Drogenkarriere. Während eines psychotischen Schubs hat er in der geschlossenen Einrichtung den Mann, mit dem er das Zimmer teilte, mit einem Kissen erstickt. Zwölf Jahre musste er dafür ins Gefängnis. Da kommt der Tontechniker auf die Bühne und sagt mir, dass er noch mal für zehn Minuten weg muss, um einen anderen Monitor zu holen. Ich bleibe allein mit dem Mann, der seine Worte immer weiter und weiter feuert. Er dreht sich in seinen Erzählungen im Kreis. Beginnt wieder von vorne. Ich höre ihm weiter zu, merke aber, dass ich nicht an ihn rankomme. Er kreist um sich und seine Gedanken und mein Nachfragen und mein Interesse sind für ihn gar nicht von Belang. Er versinkt in seiner Welt und ist dort kaum erreichbar. Irgendwann setze ich mich einfach ans Klavier und beginne, die Melodie eines ganz neuen Liedes zu spielen, das ich gerade frisch geschrieben habe: «Wäre ich du, ich würd’ mich lieben.» Er redet. Ich spiele. Er redet weiter. Ich spiele weiter. Plötzlich stoppt der Mann, hört auf, aufgebracht, um mich zu kreisen, und setzt sich in die erste Reihe, schliesst die Augen und wird plötzlich ganz ruhig. Ich spiele einfach nur die Melodie dieses Liedes weiter. Der Mann sitzt tief in sich versunken da. Was jetzt wohl in ihm vorgeht? Irgendetwas passiert gerade in ihm. Mir kommt es vor, als sässe da plötzlich ein ganz anderer Mensch vor mir. Ruhig. Entspannt. Gelassen. Mit einem friedlichen Lächeln.

Als ich von Weitem den Techniker kommen sehe, singe ich den Refrain dieses neuen Liedes: «Wenn dir das Leben mehr nimmt, als es gibt. Wenn du am Boden liegst und nichts mehr, nichts mehr an dir liebst. Dann wäre ich so gern in deiner Haut. Ich würd dir so gern zeigen, wie man sich vertraut. Und selbst wenn alle Quell’n in dir versiegen. Wäre ich du, ich würd' mich lieben!» Als ich aufhöre zu spielen, steht der Mann ganz ruhig auf. Die hektischen Bewegungen und die Aggression sind wie weggeflogen. Er kommt auf mich zu, baut sich vor meinem Klavier auf und sagt mit Tränen in den Augen: «Danke! Das war das Schönste, was ich bisher in meinem Leben gehört habe!» Dreht sich um und stapft davon.

Was ist dein Herzensanliegen?
Als ich vor über 15 Jahren bei einem Interview zu meiner ersten CD genau diese Frage gestellt bekommen habe, war meine spontane Antwort: «Ich mache Musik für Menschen, die sich im Leben schon eine blutige Nase geholt haben…» Das hat sich über all die Alben hinweg gehalten. Als Mensch, der andere Menschen therapeutisch begleitet und als Mensch, der selbst Mensch ist, weiss ich, wie rau das Leben uns manchmal begegnen kann. Da hilft mir die Musik, das hoffnungsvolle Trotzdem des Lebens zu besingen. Ich möchte mit Menschen Leben und Glauben teilen. Nicht in der Theorie, sondern in der Praxis. Manchmal komme ich aus dem Studio und will sofort das nächste Album angehen. Manchmal schwöre ich mir, kein einziges Lied mehr zu schreiben. Fast wie im richtigen Leben. Manchmal gelingt mir das Leben und manchmal scheitere ich. Manchmal tanzt man durch das Leben und alles ist wunderbar – im nächsten Moment kommt man an seine Grenzen. Dietrich Bonhoeffer schreibt: «Wer ich auch bin … Dein bin ich, o Gott!» Das gibt mir mitten in meinem Leben immer wieder den Mut, aufstehen, weiterzumachen, weiterzuleben und mich nicht an mein Gestern zu klammern, sondern mutig den heutigen Tag zu gestalten. Mehr geht nicht… Genau in dieser Offenheit und Ehrlichkeit will ich mit Menschen über das Leben und über den Glauben ins Gespräch kommen. Neulich sagte mir eine Frau nach dem Konzert: «Sie singen uns den Gott zu, der uns sieht!» Das hat mich sehr bewegt. Was für eine schöne Rückmeldung. Genau das trifft Herzensanliegen auf den Punkt.

Und im Herbst 2023 geht es ja dann erst so richtig los…?
Ja, traditionell warte ich immer mit dem Album, bis es schon eine Weile unter den Leuten ist und dann gehe ich damit auf Tour. Im September 2023 starte ich mit dem neuen Programm auch live durch und am 28. Oktober 2023 ist dann ein ganz besonderes Releasekonzert in der Stadthalle in Fürstenfeldbruck angesetzt. Zu Beginn der Tour lade ich mir immer ganz besondere Musiker ein, mit denen ich dann den Abend gestalte. Dieses Mal sind – neben natürlich meiner Frau Martina Weiss – noch Frank van Essen (Geige), Eugen Wall (Saxophon, Klarinette), Theo W. Hanny (Posaune, Bass) und David Kandert (Percussion) mit dabei. Danach gehe ich mit dem Programm für ein paar hundert Mal solo auf Konzertreise. Karten für dieses besondere Event gibt es jetzt zu günstigen VVK-Preisen. Knapp 900 Menschen passen in die Halle und über 200 Karten sind schon weg. Da muss man jetzt schnell sein… Ich freu mich auf jeden Fall schon sehr drauf!

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Datum: 27.12.2022
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet

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