«Islam in der Krise»

Ein Buch, das vielen gängigen Deutungsmustern widerspricht

Scheinbar unaufhaltsam breitet sich der Islam aus. Dieses Bild vermitteln jedenfalls militante Islamisten und zahlreiche Europäer und US-Amerikaner, die eine kulturelle oder religiöse Unterwanderung voraussagen. Kaum etwas könnte weiter von der Wirklichkeit entfernt sein, behauptet dagegen der Religionswissenschaftler Michael Blume. Er beschreibt in seinem aktuellen Buch vielmehr «eine Weltreligion zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug».
Mekka (Symbolbild)
Buchcover «Islam in der Krise»
Michael Blume

Dr. Michael Blume (41) legt mit «Islam in der Krise» ein Buch vor, das vielen gängigen Deutungsmustern widerspricht. Er schreibt herrlich unaufgeregt, verständlich und nachvollziehbar, wissenschaftlich fundiert und geprägt von seinem persönlichen Erleben. Selbst wer nicht mit ihm übereinstimmt, kann das Lesen des 192-seitigen Textes geniessen. Allen anderen wird es in vielerlei Hinsicht die Augen öffnen. Das beginnt schon mit seiner Grundannahme.

Der Islam ist gar nicht auf dem Vormarsch?

Bevor Blume seine eigentliche Argumentation entfaltet, nimmt er einem bedrohlichen Szenario den Wind aus den Segeln: dem vom unaufhaltsamen Vormarsch des Islam. Er erklärt, dass die Zählung von Muslimen sich einfach schwierig gestaltet. Das Christentum bezeichnet er als «Entscheidungsreligion» (S. 14). Christ wird man ja nicht durch die Geburt, sondern durch Taufe, eigene Entscheidung bzw. Mitgliedschaft. Selbstverständlich kann man auch jederzeit wieder aus seiner Kirche austreten. Als Muslim wird man dagegen geboren, in der Regel ohne die Möglichkeit, seiner Religion den Rücken zu kehren. Dadurch entstehen Mitgliedszahlen, die keinerlei Rückhalt im praktischen Leben haben. «Würden wir alle diejenigen als ‚Christen’ zählen, die von christlichen Vorfahren abstammen…, so würden auf einen Schlag zum Beispiel über 90 Prozent der Sachsen zu ‚Christen’ – denn sie stammen aus christlichen Familien und feiern meistens auch noch irgendwie Weihnachten…», (S. 15) vergleicht er.

Tatsache ist jedoch, dass sehr viele Muslime – nicht nur hier im Westen – ihrer Religion längst innerlich den Rücken gekehrt haben. Diese Abkehr belegt er mit zahlreichen Beispielen und Umfragen. Dass sie öffentlich kaum wahrgenommen wird, hat viele Gründe: «Es kostet ja auch nichts – nicht einmal eine Kirchensteuer oder einen freiwilligen Mitgliedsbeitrag – als Pseudo-‚Muslime’ mitzulaufen und sich dabei von Moscheen und anderen Versammlungen der islamisch Frommen möglichst fernzuhalten. Ich nenne diesen Ausdruck der millionenfachen inneren Abkehr vom Islam den ‚stillen Rückzug’» (S. 25).

Vor diesem Hintergrund bekommt der medienwirksame radikale Islamismus eine ganz neue Bedeutung. Er ist nicht das Zeichen für einen starken Islam, sondern «es handelt sich nur um das verzweifelte Anstreichen eines Hauses, das kurz davorsteht, in sich zusammenzustürzen. Aber auch der Zusammenbruch eines Hauses bleibt gefährlich, und das nicht nur für seine Bewohner» (S. 33), zitiert Blume den Ex-Muslim Hamed Abdel-Samad.

Abgehängt, erstarrt und ungebildet

Was aber ist der Grund für die Krise im Islam? Warum ist er so erstarrt, so wenig reformfähig, so radikal? Michael Blume hält dies nicht für typisch islamisch, er lokalisiert ein lange zurückliegendes Ereignis, das die Weltreligion bis heute lähmt: 1485 verbot Sultan Bayezid II. bei Todesstrafe den Druck mit arabischen Lettern. Im vorausgegangenen Mittelalter erlebte der Orient – im Gegensatz zum christlichen Abendland – eine kulturelle, wissenschaftliche und technologische Blütezeit. Als der Westen mit dem Beginn des Buchdrucks begann, sich zu entwickeln, traf der fromme Sultan mit dem Beinamen «der Heilige» eine folgenreiche Entscheidung. Er stellte sich gegen den Buchdruck, indem er die arabischen Schriftzeichen an sich als heilig erklärte. Sie durften nur noch von islamischen Gelehrten rezitiert oder mit Hand geschrieben werden.

Blumes Fazit: Während Europa unter Umbrüchen, Kriegen und Krisen in Reformation und Neuzeit stürmte, versank die islamische Zivilisation in einer Art Schlummer (S. 56). Was zunächst sehr stabil wirkte, stellte sich im Laufe der Jahrhunderte immer stärker als starr heraus. Als fast 300 Jahre später der Buchdruck in der arabischen Welt doch noch genehmigt wurde, gab es dort fast keine lesekundige Bevölkerung mehr – um die zwei Prozent gegenüber damals 50 Prozent in Mitteleuropa (S. 60). Die Auswirkungen sind bis heute zu sehen: «Derzeit werden in der arabischen Welt lediglich 330 Bücher jährlich übersetzt» (S. 61). Dem stehen über 10'000 Titel gegenüber, die jährlich ins Deutsche übertragen werden.

Auch wissenschaftlich ist die Region im Unbedeutenden versunken: Es werden praktisch keine Patente angemeldet. Der tunesische Prediger Abdelfattah Mourou zog in einer Predigt 2016 eine düstere Bilanz: «Wo sind aber euer Wissen und eure Weisheit heute, o Muslime?… 30 Prozent der Muslime können weder lesen noch schreiben! Wir können nicht auf eine einzige Universität stolz sein, die Köpfe hervorbringen würde, die die Welt voranbringen. Wir sind eine Gemeinschaft, die nicht liest und schreibt! Heute ist der erste Tag des neuen Jahres! Bei allem Respekt: Hat jemand hier im letzten Jahr ein einziges Buch gelesen? Wir lesen nicht und wir lehren auch unsere Frauen nicht zu lesen…» (S. 48).

Gefahr und Ausweg

Bei aller geschichtlichen Herleitung der Krise im heutigen Islam, besonders im arabischen Raum, vergisst Michael Blume auch nicht, auf die Gefahren hinzuweisen, die von Gläubigen ausgehen, die sich mit dem Rücken zur Wand gedrängt fühlen. «Andere sind schuld. Immer» (S. 93). Diese Haltung zeigt er in einem eigenen Kapitel zu Verschwörungstheorien, die immer darin gipfeln, dass sich die Muslime als Opfer sehen. Auf dem Weg zu einer Lösung entlarvt er auch noch den «Geburtendschihad» (S. 123) als so nicht existent. Der islamische Glaubenskampf über eine höhere Geburtenrate wurde von Autoren wie Thilo Sarrazin («Deutschland schafft sich ab») oder Michel Houellebecq («Unterwerfung») prominent angeprangert.

Als einen der Auswege aus der titelgebenden Krise des Islam beschreibt er den Umgang mit Erdöl. Blume belegt, wie islamische Staatssysteme wie zum Beispiel das wahhabitische von Saudi-Arabien ohne steuerliche oder sonstige Unterstützung aus der eigenen Bevölkerung allein durch Zahlungen von aussen aufrechterhalten werden. Es ist ein «Fluch des Öls» (S. 79ff), dass es gesellschaftliche und religiöse Entwicklungen genauso hindert wie Demokratisierung.

Wenn Sie ein Buch über den Islam lesen wollen, das nicht nur verständlich, sondern auch herausfordernd, respektvoll und augenöffnend ist, dann lesen Sie Michael Blumes «Islam in der Krise».

Der Autor

Blume ist Religionswissenschaftler, die «dürfen persönlich religiös sein, müssen dies aber nicht» (S. 9). Er ist es. Nach einer Sinnkrise wurde er als Erwachsener evangelisch. Der Autor ist mit einer türkischstämmigen Frau verheiratet, leitet das baden-württembergische Referat für Kirchen, Religion und Integration und war ab 2014 dafür zuständig, 1'100 besonders schutzbedürftige, hauptsächlich jesidische Frauen und Mädchen aus dem Nordirak nach Deutschland zu bringen.

Michael Blume: Islam in der Krise. Eine Weltreligion zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug. Patmos Verlag, 192 Seiten, ISBN 978-3-8436-0956-2. EUR 19,90.

Zum Buch:
Islam in der Krise


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Datum: 14.09.2017
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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