Jesus als Missbrauchsopfer?

Sexuelle Gewalt gegen Gottes Sohn – Provokation und Hilfe zugleich

Karfreitag ist vorbei. Der Tag, an dem die Leiden von Jesus mehr oder weniger anschaulich beschrieben werden. Meistens weniger. Oder haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, dass Jesus in den letzten Stunden seines Lebens sexuelle Gewalt erfahren hat? Darüber wird eigentlich nie gesprochen. Dabei ist es nicht nur höchst provokativ, sondern auch hilfreich.
Gemälde von Caravaggio: «Christ at the Column»

Die US-Bloggerin Mary Pezzulo ging das heisse Eisen eines missbrauchten Gottessohns in ihrem Blog an, und das theologische Feuilleton «feinschwarz» übersetzte ihren Beitrag. Das Ergebnis ist ein Artikel, der verstört. Warum? Vielleicht weil die landläufigen Leidensdarstellungen von Jesus einerseits den «gemarterten Christus» zeigen und gleichzeitig ein seltsam unbeteiligtes Wesen, das da in blütenweissem Lendenschurz am Kreuz hängt. Er ist jemand, zu dem so etwas wie sexueller Missbrauch gar nicht zu passen scheint.

Achtung: Manche der folgenden Gedanken sind nur schwer auszuhalten – besonders, wenn man selbst Opfer sexueller Gewalt war.

Gekreuzigt und missbraucht

Eigentlich sind die Evangelien in diesem Punkt sehr deutlich. Aber das wird dann klar, wenn man Verse wie Matthäus, Kapitel 7, Vers 31 wieder liest, als läse man sie zum ersten Mal: «Und nachdem sie ihn verspottet hatten, zogen sie ihm den Mantel aus und legten ihm seine Kleider an. Und sie führten ihn ab, um ihn zu kreuzigen.» Die Hinrichtungspraxis der Römer war in der Tat sadistisch. «Sie geilten sich daran auf, Menschen zu verletzen und zu demütigen», schreibt Pezzulo. Soldaten rissen Jesus die Kleider vom Leib und peitschten ihn öffentlich aus, während er nackt dastand. Sie verkleideten ihn als König und verprügelten ihn erneut. Am Ende warfen sie ihm seine eigenen Kleider wieder über – das ist sexueller Missbrauch.

Gefoltert und vergewaltigt

Als Jesus am Kreuz hing, trug er ziemlich sicher keinen Lendenschurz, denn die Römer kreuzigten ihre Verurteilten nackt. Mary Pezzulo beschreibt die Szene folgendermassen: «Ein Teil der Folter der Kreuzigung war die Demütigung, nackt dazuhängen, mitsamt der Erektion, die entstehen kann, wenn ein erwachsener Mann an den Armen aufgehängt wird und erstickt.» Auch das ist sexueller Missbrauch.

Über die Zeit zwischen Verhaftung und Kreuzigung sagt die Bibel nicht viel. Doch in der Tat war es «normal», dass die Delinquenten von ihren Wärtern gequält und vergewaltigt wurden. Das war quasi Teil des Programms. Noch einmal Mary Pezzulo: «Für mich ist es nicht nur wahrscheinlich, dass Jesus buchstäblich irgendwann während seiner Leidenszeit vergewaltigt wurde – es wäre eher eine Überraschung, wenn ihm das nicht geschehen wäre.»

Würde Gott so etwas zulassen?

Die spontane Reaktion vieler Menschen auf diese Gedanken ist: «Das würde Gott nicht zulassen.» – Langsam. Kann das stimmen? Gott hat zugelassen, dass sein Sohn umgebracht wurde. Er hat nicht eingegriffen. Der Tod von Jesus war keine «Kreuzigung light». Gott, der Sohn, kam in ganzer Konsequenz als Mensch auf die Erde. Und er nahm auch keine Abkürzung, als es ums Leiden und Sterben ging. Er stellte sich der Bosheit der Menschen. Und genau dadurch überwand er sie. Ausserdem – das betont Pezzulo an dieser Stelle im Blick auf die vielen anderen Missbrauchsopfer: «Opfer sexueller Gewalt zu sein, ist keine Sünde». Jesus wurde nicht nur getötet, er wurde ausgezogen, gedemütigt, wahrscheinlich vergewaltigt. Und es war nicht seine Schuld, genauso wie alle Opfer sexueller Gewalt an dieser Gewalt nicht schuldig sind.

Jesus weiss, wie sich Dreck anfühlt

Der Hebräerbrief enthält einen Satz, der sich in älteren Übersetzungen oft etwas verschraubt anhört: «Denn wir haben nicht einen Hohenpriester [gemeint ist Jesus], der kein Mitleid haben könnte mit unseren Schwachheiten, sondern einen, der in allem versucht worden ist in ähnlicher Weise wie wir, doch ohne Sünde» (Hebräer, Kapitel 4, Vers 15). Will sagen: Gott versteht dich, denn er hat all das, was wir erleiden, selbst mitgemacht. Genau deshalb gehört ein Thema wie sexueller Missbrauch mitten hinein in unsere hohen christlichen Festtage. Denn Opfer sexueller Gewalt fühlen sich oft dreckig, unwürdig, trauen sich kaum, ihre Augen zum Himmel zu erheben. Doch wenn sie es tun, dann sehen sie da Christus, der weiss, wie sie sich fühlen, weil man ihn selbst missbraucht hat.

Ist das schrecklich? Ja. Ist das peinlich? Ja. Ist das ein Grund, sich zu schämen? Ja, für die Täter. Ist das ein Grund zu schweigen? Auf keinen Fall! Mary Pezzulo schliesst ihren Artikel mit einem klaren: «Natürlich wurde Jesus sexuell missbraucht: weil er wusste, dass einige von uns missbraucht werden würden.» Das ist eine Provokation. Aber das kann für alle Betroffenen auch unendlich hilfreich sein.

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Datum: 24.04.2019
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / feinschwarz.net / patheos.com

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