Naturwissenschaftler reflektiert

Was ist Arbeit im Zeitalter «Industrie 4.0»?

Molekularbiologe und Theologe Beat Schweitzer diskutierte mit einigen Dozenten am tsc auf St. Chrischona die Frage, was denn eigentlich als Arbeit gelte. «Arbeit ist, sobald sich etwas bewegt», sagte er lapidar. Hinter dieser nicht ganz ernst gemeinten Bemerkung steckt ein Funke Wahrheit, wie Schweitzer im Magazin INSIST selbst reflektiert.
Schneeschaufeln
Beat Schweitzer

Physikalisch wird Arbeit definiert als Kraft, die über eine bestimmte Strecke auf einen Gegenstand einwirkt. Als Formel heisst das dann vereinfacht: W = F  s. Die Grösse der Arbeit (W) ist abhängig von der Kraft (F), die zu wirken hat und vom Weg (s), der zurückgelegt werden muss.

Arbeit physikalisch gesehen

Zum Beispiel so: Eine schwere Kiste von einer Ecke in die andere zu schieben bedeutet mehr Arbeit, als dasselbe mit einer leichten Kiste zu tun. Und wenn ich sie dann in der Ecke stehen lassen kann, bedeutet das wiederum weniger Arbeit, als wenn ich sie wieder an ihren Ausgangspunkt zurückschieben muss. Bei dieser Aufgabe kommen unterschiedliche Formen von Arbeiten zum Zug: etwa Hubarbeit, Kompressionsarbeit oder Beschleunigungsarbeit. Das ist alles ganz einfach und nüchtern. Und das ist mitunter ein Grund, weshalb mich die Naturwissenschaften so faszinieren. Manchmal sind die Dinge einfach glasklar: Was physikalisch gesehen Arbeit ist und welche geleistete Arbeit grösser oder kleiner ist, lässt sich ganz einfach berechnen und vergleichen.

Arbeit als Lohn

Doch die Physik zeigt uns nur die eine Seite der Medaille. Mit der exakten Berechnung der Arbeit ist längst nicht alles gesagt. Das Berechnen einer Arbeitsleistung sagt noch nichts aus über den Wert dieser Arbeit. In unserer Gesellschaft wird der Wert einer Arbeit wesentlich durch die Höhe ihrer Bezahlung ausgedrückt. Arbeit wird nicht über das Mass der physikalischen Anstrengung definiert, sondern über die Höhe des Betrages, der dafür ausbezahlt wird. Und die Höhe dieses Lohnes hängt in der Regel nicht von der physikalisch geleisteten Arbeit ab. Man stelle sich einmal ein Wirtschaftssystem vor, in dem unser Lohn von der physikalisch berechneten Arbeitsleistung abhängt! Gut in dieses Bild passt auch, dass unbezahlte Arbeit – etwa die private Hausarbeit oder Freiwilligenarbeit – als weniger wertvoll gilt und gerne übersehen wird.

Arbeit als Wert

Der Wert der Arbeit liegt aber nicht allein darin, dass wir dafür bezahlt werden. Die Arbeit gibt auch dem Menschen selbst einen Wert. Einer Arbeit nachgehen, in einem Job gebraucht werden, eine Fähigkeit beherrschen und etwas zu einem Projekt beitragen, das alles kann dem Menschen Sinn und Erfüllung geben. Dieser Zusammenhang kommt in der Bibel schon ganz am Anfang zum Ausdruck. Gott erschafft den Menschen, setzt ihn in einen Garten und gibt ihm sofort eine sinnvolle und sinnstiftende Beschäftigung (1. Mose, Kapitel 2, Verse 1-15). Wie wichtig diese Wertgebung ist, zeigt sich, wenn die Arbeit plötzlich wegfällt. Wer schon einmal länger arbeitslos war oder dies aus nächster Nähe mitbekommen hat, weiss, wovon ich rede.

Das Zeitalter «Industrie 4.0» und die damit verbundene zunehmende Digitalisierung führt deshalb zu einer doppelte Herausforderung. Einerseits fallen gewisse Arbeitsschritte, vielleicht sogar die ganze Arbeit weg – und damit auch das damit verbundene Einkommen. Andererseits geht mit der fehlenden Arbeit auch der wert- und sinnstiftende Aspekt der Arbeit verloren. Wer sich der Herausforderung des Zeitalters «Industrie 4.0» stellen will, sollte deshalb unbedingt beide Aspekte bedenken.

Wer sich auf diese Fragen einlassen will, nimmt in jedem Fall viel Arbeit in Kauf. Ob er das dann im Zeitalter «Industrie 4.0» wenigstens zur Arbeitszeit zählen kann?

Zum Thema:
Generation Y: Von der Work-Life-Balance zur Life-Balance
Christliche Arbeitsethik: Muss Arbeit Berufung sein?
Alles unter einem Hut?: Selbst bestimmen, was zu tun und zu lassen ist

Datum: 22.01.2019
Autor: Beat Schweitzer
Quelle: Magazin INSIST

Werbung
Livenet Service
Werbung