Macht Religion Angst?

Spirituelle Konflikte, Ängste und der Einfluss der Persönlichkeit

Der Basler Psychiater und Psychologieprofessor Samuel Pfeifer sagt: «Mensch sein heisst auch Angst haben, und dennoch im Vertrauen auf Gott zu leben.» Pfeifer sprach am virtuell durchgeführten Symposium der Arbeitsgemeinschaft für Psychologie und Seelsorge (APS) über «Gottvertrauen im Zeitalter der Angst».
Samuel Pfeifer (Bild: Magazin INSIST)

Pfeifer machte zu Anfang eine erstaunliche Feststellung: «Die 'Neurosen' gibt es nicht mehr.» Seit rund zehn Jahren gebe es aber die «spiritual stuggles», spirituelle Konflikte. Die Fachwelt fragt: Macht Religion Angst? Das wurde früher klar bejaht. Dabei wurde vor allem auf eng geführte Frömmigkeit hingewiesen, die zwangsläufig in Ängste hineinführt. Zugespitzt hiess es: Religion macht krank (ekklesiogene Neurose). Oder aber: Religion erzeugt Neurosen.

Was ist aus den Neurosen geworden?

Es gibt laut Pfeifer seit 1980 eine tiefgreifende Veränderung der Begriffe. Seither spreche man von Störungen. Bei «Neurosen» ging man von frühkindlichen Ursachen aus, die das Erwachsenenleben stören, zum Beispiel eine strenge religiöse Erziehung, die zur ekklesiogenen Neurose führen könne.

Inzwischen sei diese kausale Beschreibung durch eine phänomenologische ersetzt worden. Die Ursache des Problems im Erwachsenenleben wird nicht mehr auf Erlebnisse in der Kindheit zurückgeführt. Man beschreibt jetzt einfach, was man als Phänomene feststellt. «Ich finde, das hilft, die Menschen besser in ihrem aktuellen Zustand wahrzunehmen, ohne zu fragen, wie die Eltern mit ihnen umgegangen sind», erklärt Pfeifer. «Wir fragen, wie sich Angst auf das Wohlbefinden, die Beziehungen und die Leistungsfähigkeit auswirkt.»

Spannungen auflösen

Heute fragen die Psychiater, wie das bestehende Spannungsfeld aufgelöst werden kann. Wie reagiert der Patient auf Stress, worüber ist er traurig? Man fragt nach dem Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und religiösen Konflikten, zum Beispiel nach der Verträglichkeit mit Mitmenschen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und religiösen Konflikten? Hat der Patient das Gefühl, von Gott gestraft zu werden, von Satan und Dämonen geplagt zu werden? Steht er im Konflikt mit den religiösen Personen, seiner Kirche? Hat er Schuldgefühle und Zweifel, leidet er an der ungerechten Welt? Kämpft er gegen vermeintliche Sünden, zweifelt er am Sinn des Lebens?  

Die Ursachen entdecken

Für Pfeifer ist klar: Je mehr Stressfaktoren wir haben, desto häufiger kommt es zu religiös-spirituellen Konflikten. Auch wegen unerfüllter Gebete. Eine andere Ursache seien Persönlichkeitsfaktoren, zum Beispiel der Neurotizismus. Konflikte können aber auch ganz reale Ursachen wie sexuellen Missbrauch haben. Oder Haltungen und Lehren, die für alles, was nicht aufgeht, den Teufel bemühen. Oder die Angst, falsche, sündige Entscheidungen zu treffen und dadurch das Wohlwollen und den Segen Gottes zu verlieren. Also Ängste, die durch eine sektiererische Enge entstehen.

Der Glaube als Stütze

Eine Studie 1994/99, an der Pfeifer mitarbeitete, ergab: Es gibt keine Korrelation zwischen Religiosität und Neurotizismus! Religion könne dagegen ein wichtiger Faktor für die Bewältigung von Depression und Angst sein. Der Glaube könne jedoch zu inneren Konflikten führen, wenn er mit (falschen) religiösen Grundsätzen in Konflikt gerät. Dennoch erfahren laut der Studie Gläubige normalerweise den Glauben als wichtige Stütze im Leben.

Spirituelle Konflikte führten allerdings zu einer verminderten Lebenszufriedenheit. Diese werde aber nicht durch den Glauben, sondern durch Neurotizismus in der Persönlichkeit verursacht. Menschen mit hohen Werten bei Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit hätten hingegen niedrige religiöse Konflikte. Und religiöse Konflikte reduzierten das Wohlbefinden weniger als Neurotizismus, so Pfeifer. Hohe Religiosität führe nur bei 13 bis 16 Prozent der Menschen zu Konflikten. Und wer gläubig sei, habe längerfristig weniger Konflikte als nicht-religiöse Menschen.

Ressourcen im Umgang mit der Angst

«In der Welt habt ihr Angst...», zitierte Pfeifer die Bibel. Aber es gibt auch Gegenmittel zur Angst: Wenn ich Zweifel zulasse, ein falsches Gottesbild ändere, Akzeptanz für meine begrenzte Existenz entwickle und Dankbarkeit sowie Selbstannahme praktiziere, leider ich weniger an Ängsten. Der Sänger Arne Kopfermann schreibt: «Ich möchte Gott auf eine ehrlichere Weise betrachten, die den Brüchen und Kämpfen der eigenen Biografie standhält.»

Man darf also laut Pfeifer auch klagen vor Gott. Denn Gott ist manchmal so anders als wir ihn uns vorstellen. Der Ängstliche soll auch fragen: Wer ist Gott in meinem Leben? Es gelte zudem, Zweifel zuzulassen, ohne sich vor Gott schuldig zu fühlen, wie einst Hiob. Ausserdem gilt: Wir dürfen uns die Freiheit nicht nehmen lassen, gemäss Paulus, «lasst euch niemand eure Freiheit rauben». Daher rät Pfeifer: Gehe deinen Weg im Aufblick zu Gott. Gott bleibt da bei allen Spannungen, die wir mit dieser Welt erleben. Und er zitierte zum Schluss aus einem Taizé-Lied: «Nichts soll dich ängsten und quälen, denn dich trägt Gott.»

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Datum: 24.11.2020
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet

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